REIHE oder POP?

Vortrag, gehalten am 1. Okt. 1966 in Utrecht, als Auftakt zu einem Happening-Konzert mit niederländischenWerken (leicht gekürzt).

„Panem et circenses: Das Brot wird immer knapperund der Zirkus wird immer größer.“ J. P. Wilhelm Meine Damen und Herren, wer von Ihnen meine theoretischen Anschauungen kennt, wird wissen, wie empfindlich ich gegen die leichtsinnige Identifizierung musikalischen Denkens mit Anweisungen für Gebrauchsrezepte und Muster reagiere. Vorab möchte ich daher bemerken, daß ich keineswegs beabsichtige, zwischen den im Titel meines Vortrags genannten Alternativen bloß eine einfache Wahl zu treffen, um jene Borniertheit dann auch noch zu verteidigen.

Wie immer auch die Beziehungen zwischen einer authentischen seriellen Musik und den Kategorien, die aus ihr und gegen sie sich entwickelt haben, sich darstellen mögen, — sie sind zutiefst dialektisch und keine von ihnen wäre isoliert darzustellen, ohne gleichzeitig falsch zu sein Was in den letzten 10 Jahren als Ausbruch aus dem musikalischen Prinzip des Seriellen sich präsentiert hat, besitzt seinen Grund in eben jener umfassenden Kompositionstechnik. Doppelt ließe sich fragen, ob an der Flucht in neue Genres etwa die Unzulänglichkeit seriellen Komponierens Schuld trage, oder ob umgekehrt die Entwicklung serieller Kompositionsmethoden durch die leichtfertige Proklamation neuer — partikularer — Stile sabotiert und unterdrückt worden sei. Bekannt sind die kompositionstechnischen Schwierigkeiten und Probleme, die das serielle System stellt. Es sei darum nicht weiter die Rede von den Komponisten, die äußerlich ans serielle Arbeiten sich einmal herangewagt haben, um dann schnell ihre verbrannten Finger daraus zurückzuziehen und im gemächlichen Mischmasch von Atonalität und Klangfarbenkomposition Zuflucht zu suchen. Denn problematischer scheinen mir die Aspekte der seriellen Komposition, die selber zu jenen neuen Entwicklungen beigetragen haben. Diese Entwicklungen lassen sich, wie mir scheint, als Konsequenzen der Tatsache beschreiben, daß man, dem monströsen Ideal absoluter technischer Reinheit folgend, das Serielle in einem falschen Sinne als Formalsystem konzipiert hat. Jedoch fehlte diesem System, was Formalsysteme gemeinhin besitzen, nämlich die logische Konvention. Früh schon ist kritischen Geistern die krasse Diskrepanz zwischen den oft vertrackten seriellen Ableitungen und dem zufällig anmutenden Charakter aufgefallen, den diese dann innerhalb des klingenden Werkes annahmen. Dem Seriellen fehle die Natürlichkeit der Tonalität raunzte die eine Gruppe von Reaktionären, — es besitze keine „Sprachlichkeit“, raunzte die andere. Blödsinnig, wie beide Argumente sind, haben die Komponisten dennoch zuviel darauf gehört. So trat ihnen die Frage ins Bewußtsein, ob nicht die Dürre der ersten seriellen Kompositionen darauf zurückzuführen sei, daß man zu intensiv und zu einseitig sich nur um Fragen der Organisation bemüht habe, ohne genauer zu bedenken, was denn nun eigentlich organisiert werden solle. So oberflächlich diese Frage ist, so enthält sie doch ein Körnchen Wahrheit, welches aber von allen falschen Konsequenzen zuerst einmal gründlich erstickt wurde.

In ihrer einfachen Form ist die musikalische Antwort auf jene Frage geschmacklosestes Kunstgewerbe. Denn leicht läßt sich schließen, daß man, will man nur ein umfassender Geist sein, schlechthin alles — auch alles Außermusikalische — seriell organisieren kann: nicht nur die Parameter einer Komposition lassen sich durch Reihenformen determinieren, sondern auch Gardinen, Tapetenmuster, Blumenbeete, Volksversammlungen, — die Spontaneität oder Freiheit musikalischer Interpreten wie die Aufstellung von Plastikzwergen in bürgerichen Vorgärten. Am Übermaß dessen, wozu das Serielle in Verhältnisse treten kann, läßt sich absehen, wie äußerlich, wie beziehungsos diese Verhältnisse beschaffen sind, wie mechanistisch die Übertragung serieller Kriterien sich vollziehen kann. Mondrian hätte gerne die ganze Welt in rechte Winkel aufgeteilt, Mallarme meinte, die gesamte Welt müsse in ein Buch münden. Da sie sich mit gleichem Anspruch seriell regeln läßt, muß sie, vor solcher Totalität, wieder in Einzelheiten zerfallen. Dies ist der tautologische Aspekt des Seriellen. Ich sprach vorhin vom seriellen Formalcharakter. Ihm wohnen die gleichen Unstimmigkeiten inne wie den Prinzipien der formalen Logik, die ja auch, als Wittgenstein sie zur Philosophie aufblähte, dem süßen Aberglauben sich hingab, ihre logischen Schlüsse seien Wahrheitssätze.

Um dem Dilemma einer inhaltsleeren Totalität und somit einer seriell determinierten totalen Beliebigkeit zu entkommen, haben sich bisher zwei mögliche Wege gezeigt, auf die der Fuß gleich kritisch zu setzen ist.

Der erste Weg führt zu der These, das Serielle Prinzip müsse in einer eigenständigen Musik gewissermaßen sein eigener Inhalt werden. Die Ursachen für die theoretische Begründung einer so strikt puristisch in sich verschließenden Musik mögen wohl in dem tiefen Choc gelegen haben, den die während des Krieges aufgewachsenen Intellektuellen angesichts der Barbarei empfanden, in welche während des Hitlerregims die Musik im Lande Brahms’ gefallen war. Auch mochte ihnen die Erfahrung mit der faschistisch-demagogischen Musik von Goebbels’ Orff und Egk bedeutet haben, daß Musik prinzipiell aus dem Bereich zu lösen sei, den man den gesellschaftlichen nennt. Dem totalitären politischen Anspruch, der sich auch jede künstlerische Regung zu unterwerfen gedachte, antwortete die schließlich befreite Musik mit einer totalen Zurücknahme jeglicher verbindlicher Artikulationen in ihr Gerüst. So etwa ließe sich das oft fanatische Züge annehmende Reinheitsideal der frühen seriellen Musik deuten, die nichts ihr Äußerliches mehr an sich dulden wollte. Doch hat diese Unduldsamkeit den Charakter des Ausmerzens. Und andererseits ist das Idea von Reinheit in den Konzentrationslagern umfassend mitsamt dem vernichtet worden, was seinem Namen der Vernichtung hilflos preisgegeben war. Weder als politisches, noch als ästhetisches Ideal ist es seitdem in irgend zu gebrauchen. Demjenigen, der gewohnt ist, in gesellschaftlichen statt in ästhetischen Kategorien zu denken, wird deutlich, wie sehr die neurotische Seite des frühen seriellen Komponierens, — das paraniode Ideal einer totalen Prädetermination — antithetisch zu jener gesellschaftlichen Neurose sich verhält, welche Europa an den Rand des Untergangs geführt hat. Vom Wahnsystem des Spätkapitalismus hat das Serielle in seiner frühen Phase den Perfektionismus übernommen. In den total prädeterminierten Kompositionen wurde gleichermaßen der serielle Trust konstruiert. Und wehe, wenn in der Maschine ein Schräubchen nicht gestimmt hätte. Der Idee einer seriellen Musik nur durch sich selber, wie sie sich an der Wiege des Seriellen entwickelt hatte, ist notwendigerweise die enzyklopädische beigesellt. Wenn alles in einem Werk nur seriell begründet sein sollte, so hatte auf der anderen Seite all das, was seriell aus den Grundreihen sich ableiten ließ, seine Gleichwertigkeit. Koenig hat angesichts des Mißverständnisses zwischen Struktur und Fülle möglicher Reihenformen von einem „Vorbeimarsch der Permutationen“ gesprochen, anders läßt sich dies als Vollständigkeitsfimmel des Seriellen bezeichnen. Eng mit der Idee einer totalen seriellen Anatonomie hängt das Bedürfnis zusammen, aus dieser Art zu komponieren das menschliche Subjekt auszuschalten. Ich bin weit davon entfernt, dies zu kritisieren, da es mir als notwendige Konsequenz einer bestimmten geschichtlichen Situation des musikalischen Materials erscheint. Authentizität wurde also als Perfektion des Gefüges betrachtet, so als ob dieses etwa zu funktionieren hätte. Hinzuzufügen bleibb daß all die neuen Formen, die im Lauf des letzten Jahrzehnts proklamiert wurden, ihrer Struktur nach nichts anderes darstellten, als eine Art von Garantie für ein widerspruchsfreies Funktionieren der seriellen Methoden. Doch hat sich längst herausgestellt, daß was zum Beispiel Stockhausen emphatisch als neue Form proklamiert hat, allenfalls als Begriff für Materialcharakteristika tauglich ist und als Formbegriff inhaltsleer bleibt. Begriffe wie etwa der der punktuellen Form oder der der Gruppenform weisen gerade von der Frage nach der Form weg, und der Begriff der variablen Form ist eine contradiktio in adjekto, sofern er nur meint, irgendwie Form benennen zu wollen.

Die erste Gestalt, die das serielle Komponieren angenommen hat, stellt sich als das reine, inhaltslose System dar. Dieses, so haben die Komponisten dann bald bemerkt, vermag trotz all seiner taktischen Schlüssigkeit nicht musikalische Sprache zu werden. Stockhausen hat es bis zum Gruppenbegriff hin erweitert, um dann, anstatt weiterzugehen, auf jenen zweiten Weg abzuweichen, auf welchem die meisten Komponisten sich begeben hatten, um den Inhalt zu suchen Dieser Weg mündet in die Negation des Seriellen Und dennoch hat es den Anschein, als ob auf ihm das Serielle zu seiner vollen Entfaltung gelange. Wie es vorhin in seine eigene Methodologie sich zusammenfaltete, im Glauben, deren Verknotung ergebe den Klumpen der Konkretion, so appliziert es nun diese Methodologie auf Phänomene, die ihm Inhalte an sich scheinen, und die, seriell verflochten, nun Inhalte des Seriellen werden sollen. Dies verurteilt sie von vornherein zur Partikularität Denn der Anspruch des Seriellen besteht nicht einfach nur darin, beliebige Materialbrocken in Proportionen zu rücken. Geschichtlich ist die serielle Kompositionstechnik das Resultat eines Bedürfnisses musikalischer Differenzierung. Absurd, es nun als Mittel einfacher Katalogisierung verwenden zu wollen. Auch jener zweite Weg, ich deutete es schon an, hat seine enzyklopädische Seite. Bestand diese auf dem ersten Weg in der möglichst umfassenden Verwendung des seriellen Innenraums — der Permutationsresultate —, so besteht sie nun in einer Kraftprobe, die man dem neuen Kompositionsprinzip den Klängen und Ereignissen der Umwelt gegenüber zumutet.

Theorie und Praxis einer musikalischen Integration heterogener Elemente gehören, wenn’s Cage, Paik und Stockhausen auch partout nicht glauben wollen, zum ältesten, was abendändische Musik kennt. Doch haben alle früheren Verfahren der musikalischen Parodie dem Seriellen gegenüber dies gemeinsam daß sie idiomatisch heterogene Elemente verwendeten, die sich aber nichtsdestoweniger der Struktur des jeweiligen kompositorischen Systems integrieren ließen. Am Beispiel alter Cantus-Firmus-Motetten, am Beispiel von Parodiemessen, am Beispiel von Caccia, Frottola und schließlich Suite, wie auch an allen späteren Beispielen bis hin zu Mahlers Liedern eines fahrenden Gesellen läßt sich präzise die Kohärenz zwischen System und Struktur des Integrierten nachweisen. Der formale Bruch wenn man nicht dilettantischen Ekklektizismus früherer Epochen dahin einnehmen will — hat erst in einer Epoche stattgefunden, in welcher die idiomatische Struktur der Werke von derjenigen der Elemente, die sie sich aneignen wollten, grundverschieden war. Wenn anläßich dieses Bruches von neueren Phänomenen noch ausführlicher die Rede sein soll, so kann vorweg schon konstatiert werden, daß sie ihn nicht erst heute geschaffen haben. Er hat zumindest schon in Kreneks „Jonny spielt auf“ oder in Berg’s Violinkonzert seine Vorbilder. Prinzipiell ist danach zu fragen, ob überhaupt die Möglichkeit einer Integration fremder musiksprachlicher Elemente oder anderer Ereignisse in das serielle System sinnvoll sei. Die Antwort darauf wird sich durch eine kritische Betrachtung der Resultate entwickeln lassen, die diese Integration in den letzten Jahren gezeitigt hat und mit unermüdlichem Eifer unablässig produziert.

Die Gründe für das heftige Ausscheren aus dem seriellen Joch mögen wohl zweierlei Art sein. Zum ersten mag es sich tatsächlich um eine Probe darauf gehandelt haben, was das Serielle außerseriellen, geschichtlich geschlossenen musikalischen Gestalten gegenüber wohl zu leisten vermöge. Doch ist deren vermeintliche Integration allerorten nur Zitat oder nur äußerliche Anlehnung an den fremden technischen Kanon. Denn der musikalische Materialbegriff, der diesem Verfahren zugrunde liegt, ist dem seriellen Prinzip zutiefst zuwider. Läßt schon an den Werken, in welchen konkrete musikalische Materialien seriel montiert werden, die Widersprüchlichkeit zwischen Struktur des Montierten und den Montageprinzipien deutlich sich nachweisen, so liegt der tiefere Grund des Widerspruchs in der Konzeption eines an und in sich schon bedeutsamen Materials. Die peinlichste Stelle in Bergs Violinkonzert dürfte wohl der Augenblick sein, in welchem der technische Beweis dafür erbracht wird, daß der Bachchoral den dordekaphonischen Schemata zu integrieren vermöge. Er, der bei seiner Exposition reinen nhalt bedeutet, soll in seiner seriellen Vermittlung eine andere Seite Vortäuschen: seine rein funktionelle. Als ob er dadurch tatsächch zum integrierenden Bestandteil würde. Doch sind die Nebenstimmen, in welchen die fehlenden der 12 Töne untergebracht werden, die objektive Schwäche dieser Vortäuschung Sie klingen harmonisch so falsch und zufällig wie sonst nur Werke Hindemiths. Die Sehnsucht nach dem objektiven Inhalt, wie sie im Bachchoral zur Sprache kommt, bricht um so härter entzwei in dem Augenblick, in welchem es darum sich handeln müßte, sie zur treibenden Kraft der aktuellen Form zu machen.

Es war schon die Rede von einer Tendenz des Seriellen zur reinen Inhaltlichkeit. Doch schafft es diese nicht vermöge seiner eigenen Struktur; es entfaltet den Inhalt — die Gestalten und ihr Verständnis zueinander — nicht kraft seiner eigenen Bestimmungen, sondern übernimmt ihn gewissermaßen in Form fertig gepackter Bedeutungspakete. Hierdurch veräußerlicht sich das serielle Prinzip, ohne daß hm nun eine reine Innerlichkeit gegenüber stünde. Im Gegenteil wird die serielle Montage bloßer Inhalte zur Assemblee falscher Begriffe, zur Dekoration. Erschreckend deutich wird das falsche Bewußtsein, welches dieser Technik zugrunde liegt in Stockhausens Komposition Plus-Minus. Technisch gerät das Werk an den Rand des Irrsinns, dessen äußeres Zeichen jenes schäbige Gemisch von Ontologie und Naturphilosophie ist, welches Stockhausen seit Jahren kritiklos drittrangigen Philosophen nachbetet. In jenem Werk ist alles nach seriellen Regeln streng determiniert. Es basiert auf der Idee einer Zu- oder Abnahme von Strukturen, die den Punkt 0, also das Verschwinden der Struktur, erreichen kann. Schon daß Stockhausen meint, diese Strukturen könnten sterben, bezeichnet die geistige Verwirrung. Haben sie einmal den Nullpunkt erreicht, so können sie durch beliebige andere musikalische Ereignisse ersetzt werden, die angeblich das Negativbild der exponierten Strukturen bedeuten sollen. Das schon ist absurd, wird aber durch die Art der Bestimmung des Unbestimmten noch überboten. Entschließen die Interpreten sich, als Minus-Strukturen einfach Radioapparate anzustellen, aus welchen dann Lehar oder der Filmbericht ertönt, so haben sie dies nach strengen seriellen Regeln zu tun. Doch wird dabei die serielle Organisation zur reinen Farce. Der Sinn des seriellen Komponierens, unter der Bedingung von Unregelmäßigkeit und Differenzierung komplexe musikalische Beziehungen zu artikulieren, wird zu einem bloßen — überdies banalen und technisch unzulänglichen - Rezept degradiert, mittels welchem beliebige Ingredienzien zum faden Brei sich mischen lassen. Eine Suche nach dem Inhalt des Seriellen, die von der Dialektik serieller Komposition absieht, fällt dieser Dialektik zum Opfer. Statt des erhofften, weil herbeigezwungenen Inhalts stellt ein bunt zusammengewürfelter Reigen von Inhalten sich ein, die nicht nur dem Seriellen äußerlich sind, sondern auch einander nicht tangieren. Der Rundtanz bloßer Negationen verweist die kompositorischen Kriterien in’s Vorfeld des Arrangements. Denn was das Serielle seinem eigenen Anspruch nach bewirken sollte: Entfaltung musikalischer Strukturen zur Form, eben dies unterbindet es in den genannten Verfahren. Seriell werden Gestalten anderer Epochen oder Genres aneinandergestückt oder überlagert, ohne daß sie sich ihren eigenen Kriterien gemäß entwickeln, entfalten oder gar aufeinander beziehen könnten. Das schlichteste Haydnmenuett aber wird diesem Anspruch gerecht.

In jener Tendenz des Seriellen zur erzwungenen Inhaltlichkeit kehrt es eine reaktionäre, durchaus scholastische Seite hervor. Des Charakters reiner Formalität ledig, torkelt es auf die Seite bloßer Dinglichkeit. Indem es ehedem idiomatische oder formale Elemente als bloße Bausteine sich zu eigen zu machen versucht, die nur noch eines seriellen Schliffs bedürfen, suspendiert es zum zweiten Male seine eigene Grundlage, nämlich das Vermögen zu einer differenzierten Zeitartikulation.

Doch soll dieser Mangel nur ja geheim bleiben. Selten haben absurdere Theorien kompositorische Unzulänglichkeiten zu tarnen versucht wie in den letzten Jahren, wo die völlige Unempfindlichkeit gegen subtile musikalische Zeitartikulationen bei einigen Komponisten durch belanglose und philosophisch wie physikalisch absurde Zeittheorien zu kompensieren getrachtet wird. Pousseur etwa hat versucht, ausgehend von einer musikalisch schon unsinnigen Wellentheorie, den Nachweis zu erbringen, daß nicht nur sämtliche musikalischen Ereignisse, sondern das gesamte kosmische Geschehen sich auf eine Ur-Welle zurückführen lassen, etwa wie ein harmonisches Spektrum auf seinen Grundton. Stuckiiausen andererseits faselt von vertikalen Schnitten durch die Zeit und verbreitet theosophische Banalitäten, deren Resultat die sogenannten Momentformen sind. Cages Zeittheorien schließlich haben sich in das Gewand eines philosophischen Kunstgewerbes ohnegleichen gehüllt, dessen gefährlich reaktionäre, Konsequenzen von Cages Jüngern in all ihrer Oberflächlichkeit bislang nicht bedacht worden sind. Doch hat die Flucht in philosophischen Mystizismus ihren Grund in der Materialgestalt selber. Die Technik des permanenten Zitats oder der seriellen Collage impliziert, daß zeitlich und geschichtlich voneinander Getrenntes nun nebeneinander gepackt werde. Die kompositorische oder ästhetische Unvereinbarkeit jener heterogenen Figurationen soll, darin erhält sich ein kümmerlicher Rest seriellen Denkens, auf einen zeitlichen Nenner gebracht werden. Organisierte man so früher die musikalischen Parameter, das heißt, die konkreten musikalischen Dimensionen eines in seiner eigenen Zeit sich entfaltenden Werkes, so sollen nun die Elemente, deren Zeit außerhalb der aktuellen kompositorischen Zusammenhänge längst sich schon zu einer Marke innerhalb des geschichtlichen Verlaufs kondensiert hat, in Verhältnisse zueinander treten, die durch die von ihnen repräsentierte Zeit definiert sind. Komposition, die Kunst zeitlicher Entfaltung, gerät dabei zur schlechten Geschichtsphilosophie. Doch tritt die Kehrseite unmittelbar hervor. Cage, der bemerkt hat, Kuhglokken und Beethoven seien bloße Klangkategorien, setzt das geistige Werk auf die Stufe des bloßen Kolorits, um dann freilich am Ende doch den Kuhglocken den ästhetischen Vorrang zu geben. Stockhausen andererseits glaubt, daß die musikalischen Muster geschichtlicher Vergangenheit, stopfe man sie nur in den seriellen Strumpf, integrierende musikalische Bestandteile zu werden vermöchten.

Die dialektische Folgerung, daß das serielle Prinzip, voll guten Willens, notwendig durch die Gestalten seiner Negation sich hindurchentwickeln müsse, vergißt, so wahr sie auch ist, eine pragmatische Seite, die mit den Eigenheiten serieller Musik nur wenig zu schaffen hat. All jenen plan- und ziellosen Versuchen nämlich, nach etablierten musikalischen Idiomen zu haschen, liegt nicht zuletzt die Sehnsucht zugrunde, im eigenen Werk doch die prägnante musikalische Artikulation möglich zu machen, wie sie durch die herbeizitierten musikalischen Gestalter anderer Epochen repräsentiert wird.

Wie kompositionstheoretisch vergebens die Suche nach der verlorenen Zeit betrieben wird, so wird mit der gleichen Vergeblichkeit gesellschaftlich nach dem pop-sound gesucht, der ebenfalls verloren ging. Dem Anschein

nach stehen die Gestalten, in die das Serielle bei seinem Ausbruch sich verflüchtigte, den seriellen Prinzipien kraß gegenüber. Teils sind sie sogar außerhalb serieller Techniken oder Ideen geboren. Sie haben in den letzten Jahren von sich reden gemacht als die Phänomene der musikalischen Graphik, der sogenannten Zufallsmusik, des aus ihr geborenen musikalischen Psychologismus der selbst wiederum beteiligt ist am musikalischen Happe-, ning.

Die Happenings vor allem haben versucht, den Kontakt zum Publikum von Kunst wieder herzustelien. Den sollte, worüber ein Wort noch zu verlieren sein wird, die serielle Musik angeblich total verloren haben. Auf der anderen Seite meldeten die Happenings eine Form von Gesellschaftskritik an, deren Form und Wirksamkeit ebenfalls eines Wortes bedarf In sich beansprucht das Happening, eine kritische Montage zu sein. Darin ist es den Formen einer sieriellen composition concräte beiläufig verwandt. Hatte Dada einst seinen kritischen Stachel in den ästhetisch etablierten künstlerischen Formen, unter deren Obhut es erschien und aus deren Konflikt mit dem wirklich Gemeinten es seine Spannung bezog, so sind diese Formen im Happening ihres objektiven Charakters beraubt, dem der Angriff gelten könnte. Denn jene oft an serielle Vertracktheit gemahnende — und dennoch ästhetisch anspruchslose — Präzision, mit welcher Einzelakte des Happenings durchgeführt, tritt diesen Akten nicht als Objektivität gegenüber, deren Schein kraft des Aktes selber durchschaut würde. Die Präzision verbleibt in einer künstlerisch und philosophisch uneinsichtigen Neutralität und ist bloßes Ritual Doch meinten zumindest die musikalischen Happenings, ihr Teil sei es, eine Form von Kritik vorzutragen, die der seriellen Musik aufgrund ihrer hermetischen Sprache nicht gelungen sei. Kritik soll nun, so lautet das Programm, durch eine harte Konfrontation des Publikums mit Dingen seiner Umwelt vorgetragen werden. Doch fehlt dieser Konfrontation die Distanz, in welcher einzig Kritik an Raum gewinnen kann. Wie in mittelmäßigen seriellen Kompositionen das kompositorische Problem, so wird in den gängigen Happenings der kritische Anspruch meist in Programmtexten vorgetragen. Die Objekte und Phänomene, denen die Zuschauer im Laufe eines Happenings konfrontiert werden, ermangeln jedoch einer jeglichen Beziehung oder eines Hinweises auf den gesellschaftlichen Zustand, dessen kritischer Reflex zu sein sie vorgeben. Weder ihrem eigenen Charakter nach, noch durch die Prinzipien ihrer Collage zielen sie auf wirkliche Kritik. So gerät die Konfrontation alltäglicher oder monströser Dinge zu jenem banalen Beieinander, in welchem sie sich ohnehin befanden Der Mangel an Spannung und Reflexion kehrt sich um in die offensichtliche Vorliebe für Gewalt. Getarnt wird die violence immer noch unter dem Deckmantel von Kritik oder Protest. Indem zum Beispiel auf der Bühne Gebrauchsgegenstände der bürgerlichen Mentalität — wie etwa Fernsehapparate, Konzertflügel oder Schaufensterpuppen — zertrümmert, zersägt oder gefoltert werden, soll — vermeintlich — das falsche gesellschaftliche Bewußtsein angegriffen werden, als dessen Bestandteile dererlei Gegenstände fungieren. Doch werden bloße Dinge angegriffen, ohne daß ihre vielleicht unheilvolle gesellschaftliche Funktion auch nur bezeichnet würde. Politischer Dilettantismus ohnegleichen ist der Aberglaube, daß durch die Zerstörung des Gebrauchsobjektes der falsche Gebrauch sich korrigieren ließe. Der Kern solcher Happening-Manipulationen ist psychologischer Natur. Man kennt die Formen von Aggressivität, die bei bestimmten Eingeborenen-Stämmen gegen den Stammesfetisch sich richten, der nicht gehalten hat, was man von ihm verlangte. Wo dieser psychologische Mechanismus uns heute als Form von Protest vorgegaukelt wird, entledigt er sich selbst schon seines Anspruchs durch jenen unsäglichen Infantilismus, der seine Gestaltung beherrscht.

Gewitzt durch jene peinliche Erfahrung mit dem italienischen Futurismus, dessen unverhohlene Anbetung der Gewalt als oberster ästhetischer Norm so konsequent in den Faschismus, diese Ideologie der nackten Gewalt, mündete, geben die gegenwärtigen Happeningtheoretiker vor, daß die Gewalt, die sie den Objekten ihrer Schaustellung antun, nichts anderes, denn Mittel zum guten Zweck sei, — daß nur der Schock dem abgestumpften Publikum die Augen für’s Eigentliche wieder zu öffnen vermöge. Mir ist die These seit jeher nicht nur dilettantisch erschienen sondern auch zutiefst suspekt gewesen. Denn der Schock, der ja bekanntlich nur Schrecken ohne Konkretion, nur unvermittelte Erscheinung ist, hat kraft seiner eigenen Struktur keinerlei pädagogische oder auch nur didaktische Wirkung. Wenn ich Knallbomben in’s Publikum werfe, so ist damit keine Silbe gegen die Barbarei des Vietnamkrieges, kein Laut gegen die umfassende humane Regression im Imperialismus gesagt. Der Akt wird zum Terror ohne Ziel. Das pädagogische Vorhaben kehrt sich in sich selbst, es bleibt die bloße Manifestation zielloser Gewalt, die sich an Blech, Plastik und Musikinstrumenten austobt. In einem deutschen Happening hatte das Publikum in einem Schwimmbassin sich zu einem Menschenklumpen zu schichten. Das sollte den Leuten Aufschlüsse über die Reduktion des Menschen auf bloßes Fleisch verschaffen, wie sie in den deutschen Konzentrationslagern sich vollzogen hat. Selten habe ich mich mehr geschämt und geärgert als bei dieser bis in die Knochen reaktionären, die Menschenwürde um ihrer vorgeblichen Wiederherstellung zutiefst verletzenden geschmacklosen Demonstration.von der ich in der Presse erfuhr. Selten ist mir die Dialektik des ungezügelten Fortschrittsglaubens, der in Barbarei ausartet, klarer in’s Bewußtsein gedrungen. Wem Auschwitz und Hiroschima keine Lektion für’s Leben und kein verbindlicher Kanon für ein reflektiertes Dasein sind, dem vermögen auch jene billigen Demonstrationen von Amateur-Pädagogen nicht mehr zu helfen. Angesichts der Gaskammern ist das Zerschneiden von Klavierseiten ein ekelerregender Akt bürgerlicher Bescheidenheit.

Eins der Mißverständnisse seriellen Komponierens — der kindische Begriff von Freiheit, den es sich bildete — hat in vielen Happenings bis zur Kenntlichkeit sich verzerrt. Das pädagogische Moment, mit welchem der Zerstörungsdrang sich zu legitimieren trachtet, möchte als Hinweis auf Freiheit dienen, die auf dem Terrain der plattgewalzten Objekte sich ausbreiten könne. Die Wut, die als Gewalt an Objekten sich austobt, soll für die revolutionäre Gewalt einstehen, mittels welcher unterdrückte Klassen und Völker ihre Freiheit sich erkämpfen. Doch wird gerade in solchen Kämpfen Gewalt als ästhetische Demonstration verachtet und in steter Funktion dessen gesehen, was sie bewirken soll, nämlich Abschaffung von Gewalt. Wirkliche revolutionäre Gewalt jedoch — und vielleicht darf das auch für Kunst so formuliert werden — bezieht sich nicht bloß auf das zum Untergang bestimmte Objekt. Umfassender steht sie vielmehr in Funktion ihres Zieles, der Verwirklichung menschlicher Freiheit. Dieses Ziel diktiert ihre Formen Demgegenüber vermittelt jener ästhetische Charakter der künstlerisch sich gebärdenden Zerstörungswut, wie er von Cages Theater piece bis zu Paiks Materialschlachten oder Stockhausens Originalen zutage tritt, statt Freiheitsbewußtsein etwas von jenem Rausch, in welchen Krieger zu geraten vermögen. Gewalt löst hier von ihrem demonstrativen Zwecke sich und wird zum Zentrum der ästhetischen Kontemplation. Sie bewerkstelligt dies künstlerisch, — die Mentalität jedoch wird politisch. Wenn Cage zum Beispiel zur Verbreitung seiner Freiheitsideen apodiktisch den Untergang Europas fordert, weil dort die Intellektuellen ihm Skepsis entgegenbringen — ich zitiere: „Für Europa wird es nicht leicht sein, aufzugeben, Europa zu sein. Nichtsdestoweniger wird und muß es dies tun, denn die Welt ist nur noch eine“ — so haben in seinem Bewußtsein die Begriffe von Gewalt und Freiheit nicht minder unheilvoll zum reaktionären Knäuel sich verwirrt, wie etwa in jenem dreckigen Machwerk „Panzer zwischen Warschau und Atlantik“ des Hitleroffiziers Graf Kielmansegg, dessen Argument und Sprache so verblüffend ähnlich klingt: „Wir können melden, daß wir bereit sind, genauso den Auftrag durchzuführen, der als einziger noch zwischen uns und der Freiheit steht, die Vernichtung Englands.“ Jenes so meisterlich inszenierte monströseste Happening, welches die Menschheit je sah, sollte uns warnen, den Zusammenhang zwischen Zerstörung und Freiheit unreflektiert als handliches Mittel künstlerisch verfehlter Pädagogik zu mißbrauchen.

In jenem Funktionszusammenhang von Leben und Kunst, die beide in ihren konkreten Gestalten Resultate von gesellschaftlicher Arbeit sind, stellt das Happening eine doppelte Form der Entfremdung dar. Wie es einerseits vor dem Anspruch kritischer Selbstreflexion total versagt, der in der Kunst zumindest noch eingehalten werden kann, so kapituliert es andererseits völlig vor der anderen Forderung: einer konkreten Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse. Im Niemandsland des Schocks und der popularisierten Absurdität, in welchem es seine fatalen Ideologien sich zusammenbastelt, verkümmert es zur Marotte. Es wird, obwohl es sich einbildet, kritischer Stachel im bürgerlichen Bewußtsein zu sein, zu eben einem Bestandteil der bürgerlichen Ideologie des Postfaschismus. Walter Benjamin hat — längst vor den Erfahrungen, die theoretisch mit Happenings sich machen lassen — bemerkt, daß der Selbstzerstörungswille der Menschheit jenen Grad erreicht habe, der sie ihren eigenen Untergang als ästhetisches Ereignis allerersten Ranges erleben lasse und daß daraus die Politisierung der Kunst hervorgehe, welche der Kommunismus betreibt und welcher der Faschismus mit der Ästhetisierung der Politik antwortet. Konziser wird man wohl kaum das Zentrum der Neurose beschreiben können, als deren Abwehrreaktion die Happenings fungieren r ^ 1 Mir scheint, daß der massive Versuch, dem Volke wieder nahezukommen und der Kunst durch eine Pop-Injektion aus ihrem Elfenbeinturm zu helfen, an seiner Basis unreflektiert und falsch ist. Zumindest sehe ich in ihm keinerlei Alternative zu Bemühungen um eine authentische neue Musik Voraussetzung des Versuches ist die unbewiesene und unhaltbare These, daß durch die dodekaphonischen und seriellen Verfahren Musik sich in einem Elfenbeinturm abgekapselt habe, aus welchem sie kraft ihres eigenen Vermögens nicht mehr ausbrechen könne. Zugegebenermaßen bin ich auch der Meinung, daß neue Musik vom Publikum in einer falschen Weise gehört und verstanden werde. Doch läßt sich der Behauptung, dies sei ein geschichtlich einmaliger Fall, die Frage entgegenhalten, ob denn die mittelalterliche Feudalgesellschaft den Josquin, die protestantischen Ratsherrn ihren Bach oder das aufkommende Großbürgertum seinen Beethoven richtig gehört habe.

Ohnehin hat es nie eine ungeteilte Rezeption ernster Musik durch alle Klassen hindurch gegeben. Das klingt verteufelt reaktionär, doch bin ich der Meinung, daß man die Vorbedingungen für eine allgemeine, das heißt nicht anbestimmte gesellschaftliche Gruppen oder Schichten gebundene — Aufnahme seriöser und avancierter Musik nicht dadurch schaffen kann, daß man dieser Musik — als Signale des Gemeinverständnisses gewissermaßen — Klischees und Elemente der Gebrauchsmusik einverleibt, die ja schließlich auch nur als partikulares Phänomen an einzelne Klassen, vor allem die der Angestellten, gebunden ist. Wenn jenem Unverständnis abgeholfen werden soll, dem neue Musik allenthalben begegnet, so scheint es mir doch vordringlicher, zuerst einmal zur Analyse des falschen gesellschaftlichen Bewußtseins zu schreiten, bevor man leichtfertig die Authentizität von Kunst angreift, die dann in ihrer ekletizistischen Formen so falsch wird, daß sie eh nur dazu beiträgt, das bestehende Bewußtsein der bornierten Zuhörerschaft zu verfestigen.

Wie Kunst allgemein, so verdanken sich auch ihre avancierten musikalischen Formen einer äußerst differenzierten Arbeitsteilung und ihre Spezialisierung ist die Konsequenz innerkompositorischer Logik, in welcher Arbeitsteilung wiederum sich reflektiert. Wer irgend einmal in seiner eigenen kompositorischen Arbeit gegenwärtigen musikalischen Problemen bis auf ihren Grund nachgegangen ist, wird gespürt haben, wie sehr die Logik kompositorischer Entscheidungen und die Frage, wie wahr oder falsch diese sind, von der geschichtlich geformten Struktur des musikalischen Materials bestimmt wird und wie wenig sie von jenen zufälligen Überlegungen abhängt, obwohl das Werk opportun sein werde.

Gravierend und ernsthaften Komponisten stets gegenwärtig ist das Problem, ob denn ihre Musik eine unmittelbare Reflexion auf gesellschaftliche Zustände sich versagen müsse und ob die reine kompositorische Logik, auf der sie bestehen, nicht etwa doch nur eine Barrikade sei, hinter der sie sich verschanzen um gewichtigeren Entscheidungen zu entgehen. Denn was das Happening, obwohl es dies gerne möchte, nicht vermag: konkret sich auf Gesellschaft zu beziehen, das vermag die authentische Musik noch weniger. Wenn schon das Happening, wie sehr es als Protest sich gibt, keine Bombe über vietnamesischen Dörfern verhindern kann, so kann dies der Gesang der Jünglinge oder der Marteau sans Maitre noch viel weniger. Und wenn im elften Heft von „Provo" Ducco van Werlee zu Recht fragt „waarom stellen jullie door de week jullie kerken niet open voor happenings“, so scheint mir, daß wenn diese Forderung einmal durchgesetzt ist, der gesellschaftliche Zustand, der solcherlei ermöglicht, ohnehin die Happenings und ihren hohlen Protest überflüssig macht. Wenn auch, und dies gestehe ich freimütig, die serielle Musik an den politischen und gesellschaftlichen Bedingungen nichts zu ändern vermag, die wir für falsch und in ihrem Kern zutiefst inhuman sind, so soll ihr das noch längst kein Grund sein, sich den musikalischen Gebrauchsformen anzubiedern, deren gemeinverständliche Sprache ja nur eine Gestalt der menschlichen Entfremdung ist, unter der neue Musik zumindest leidet. — r T L J Weltweit jedoch haben im Idiom derGebrauchsmusik Sänger sich und ihren Protestliedern Gehör verschafft, vor denen ich großen Respekt habe. Ich denke an Bob Dylan, Ferrä, oder manche der Beatgruppen — wie etwa die Lords oder die Rolling Stones — die durch die Art ihrer Songs und ihrer Show, wie auch ihren äußerlichen Habitus nach Kräften überkommene gesellschaftliche Vorurteile und Tabus attackiert haben. An ihrer Musik interessiert mich natürlich keine Note, doch zwingt sie zu der Frage, und ist es faszinierend, zu sehen, wie deutlich und ungeniert diese Menschen ihr Ungenügen an den bestehenden Verhältnissen auszudrücken wissen. Anscheinend gelingt ihnen die Form des Protestes, den die ernsthafte Musik so viel authentischer und härter, aber umso ungehörter vorbringt. Der Trost, daß der Prophet im eigenen Lande nichts gelte, ist schwach geworden, denn dieses Land ist heute die ganze Erde.

Man kann, selbst wenn man musikalisch seriösere Dinge betreibt, das Phänomen von Pop und Protestsong nicht einfach übersehen. Problematisch wie die Frage, auf welche Weise wir unseren eigenen musikalischen Intentionen das rechte Gehör und Verständnis verschaffen können, ist die Frage, wie in jenen erwähnten Bereichen rechtes Bewußtsein unter falschen Formen der Mitteilung sich erhalten und verständlich machen könne und ob nicht auch dieses Bewußtsein durch die Gestalten seiner Äußerung auf die Dauer korrumpiert werde. Ginge es nicht um brennend aktuelle kompositorische Probleme, so ließe sich dank dieser Frage schon ein Kompromiß vorschlagen. Es ließe der Versuch sich wagen, eine Synthese zwischen denen so symphatischen Songs und dem musikalischen Bewußtsein zu bilden, welches wir unbeirrt für das authentische und humanere halten. Doch stehen dem eben die Kriterien und die Logik dieses Bewußtseins entgegen, welche sich gegen einen solchen Kompromiß sperren und ihn seiner Klischeehaftigkeit überführen. Wie immer auch man versucht, die Lösung jenes Problems, welches sich uns nur musikalisch stellen kann, durch außermusikalische Schlüsse herbeizuführen, sieht man sich allerorten auf jenen Anspruch zurückverweisen, demzufolge eben diese Lösung nur aus der Sache selber heraus anzugreifen und zu bewerkstelligen ist. Erneut vollzieht sich da der Rückzug in den Elfenbeinturm, die geheiligte Festung autonomen Musikdenkens So billig es mir scheint, deren Mauern schleifen zu wollen durch eine Anlehnung an bestehende, bunt durcheinander gewürfelte musikalische Idiome, so sehr bin ich mir andererseits der Fragwürdigkeit eines bloßen Bestehenwollens auf den einmal eingenommenen Standpunkten bewußt. Doch hat der augenscheinliche Rückzug serieller Musik vor den alltäglichen Belangen zur Theorie des Elfenbeinturms als bloßem Mißverständnis geführt. So überflüssig das Lamentieren über die angebliche Misanthropie neuer Musik ist, so unsinnig ist die Behauptung, daß diese Musik in ihrer Isolation nicht mehr Bestandteil der Gesellschaft sei. Das simple Denkschema solcher Folgerungen verwechselt den Begriff der Gesellschaft mit dem der gesellschaftlich akzeptierten Handlungen und Vergnügen und bewegt sich auf einem Niveau der Argumentation, welches so primitiv ist wie etwa der geliebte Satz von den kriminellen Außenseitern der Gesellschaft. Gewiß ist Kriminalität nicht beliebt, doch ist sie ein integrierender Bestandteil der bestehenden gesellschaftlichen Formen, wie etwa Dürkheim nachgewiesen hat. Was einem rechten Verständnis serieller Musik entgegensteht, ist weniger ihre bösartige Verschlossenheit. Vielmehr sind es die Bewußtseinsstruktur und die Interessen der bürgerlichen Mittelschicht, die sich zum unzulänglichen Kulturträger entwickelt hat und die mit peinlicher Akuratesse darüber wacht, daß ihre Ideale von Autorität nicht angegriffen werden. Sie scheint ein sicheres Gespür dafür entwickelt zu haben, daß neue Musik, indem sie rein musikalisch gegen die falschen Prinzipien hierarchischer Abhängigkeit sich wandte (die ist das Verhältnis des dodekaphonischen Prinzips zum tonalen), gegen unreflektierte Autorität überhaupt sich wendet. Daher die Allergie der europäischen Mittelschicht gegen neue Musik. Da sie, in Unkenntnis des objektiven Sachverhalts, nicht unmittelbar den Kern des gesellschaftlichen Problems rationalisieren kann, schafft sie sich Argumente, die lediglich ein Vorwand sind. Die peinliche Furcht vor den Dissonanzen oder den angeblich so schockierenden Klängen der elektronischen Musik. Wer aber der Kristallnacht oder den Greueln des Algerienkriegs lächelnd zuschaute, der soll mir nicht weismachen, er fürchte sich vor einer großen Septime. In diesem Zusammenhang wird deutlich, daß gerade die Zurückgezogenheit der neuen Musik und ihr Bestehen darauf, das wesentliche kritische Argument ist, welches sie dem gesellschaftlichen Zusammenhang entgegenhält. Es ist dies nicht der Protest des Mannes, der schlicht nur „ohne mich“ sagt; vielmehr ist die Zurückgezogenheit die gegenwärtig einzige Möglichkeit, die Integrität der kompositorischen Idee und die Schlüssigkeit ihrer Durchführung zu wahren, ohne ängstlich nach dem Beifall rechts und links haschen zu müssen. Als reaktionäre Geister dem ersten Buch von Boulez’ Structures vollkommenen Verlust an Sprachlichkeit attestierten, ereiferten sie sich ausgerechnet über ein Werk, welches mit dem unverständlichen Geplapper der neoklassizistischen musicbox und der Webernepigonen endgültig gebrochen hatte, um eine präzise, deutliche musikalische Sprache zu sprechen. So ist es um die Dialektik musikalischer Wahrnehmung heute bestellt Die Ächtung serieller Musik, die ja in weitem Umfange auch heute noch andauert, hat selbstverständlich Reaktionen bei den Komponisten ausgelöst. Ausführlich war hier die Rede, von jener Panik, die viele Komponisten die Würde ihrer Person und ihr kompositorisches Niveau vergessen ließ um sie zur Übernahme musikalischer Elemente zu verführen, die gewissermaßen Garanten populären Erfolges zu sein scheinen. Doch sind aus dieser Zuneigung zwischen Reihe und Pop bislang nur Wechselbälge gezeugt worden. Die andere Art der Reaktion ist die eines ängstlichen Behütens der sogenannten strukturellen Sauberkeit serieller Strukturen und Methoden. Sie hat den Nachteil, vor lauter Behutsamkeit das nicht Sprache werden zu lassen, was mit diesen Methoden und Strukturen gemeint ist. In vielen solcher Werke klappert daher nur der serielle Mechanismus, schlecht geölt.

Mir scheint, daß die fruchtbarste Lösung des Problems weder auf der einen noch auf der anderen Seite liegt, noch etwa in ihrer bloßen Zusammenfassung. Wenn aber die Existenz serieller Musik der Stachel im Fleische bürgerlichen Bewußtseins ist, so sollte sie es als ihre Aufgabe betrachten, den Protest, dessen Emblem sie ist, mittels ihres eigenen Vermögens zur Sprache zu bringen. Ich wiederhole, was ich eingangs sagte, nämlich daß es mir ferne liegt, Ihnen parate Lösungen, musikalische Kochrezepte, anzubieten. Reflexion tut heute ohnehin mehr vonnöten. Doch scheint mir, daß serieller Musik durchaus die Chance gegeben ist, das Anliegen ihres Daseins deutlich zur Sprache zu bringen, indem sie ihre Methoden der Materialorganisation dank ihrer eigenen Mittel zu einer Strategie einer authentischen musikalischen Artikulation, einer neuen Musiksprache entfaltet. Die Wege, die sich einer authentischen seriellen Komposition heute noch eröffnen, sind fruchtbar und vielfältig, was sich allerdings nicht durch Worte, sondern nur durch Werke beweisen läßt. Und es wäre bedauerlich, wenn der Geist, für den Musik einstehen soll, will sie nicht zur Farce des Glasperlenspiels werden, — wenn dieser Geist um der Popularität der Werke willen sich aus deren Gestalten zurückzöge.