Numerus clausus
Westdeutschlands Hochschulen signalisieren S-O-S. Unter dem Ansturm ständig anschwellender Abiturientenwellen drohen die Universitäten in unserem Land zu zerbersten. War das Fundament der Hochschulen durch die permanenten Ausnahmezustände der letzten 15 Jahre bereits gefährlich unterspült, so wird die Springflut von zwei Abiturjahrgängen, die sich dank der Kurzschuljahre jetzt auf zwei Semester konzentrieren, nun ganze Arbeit leisten. Die Alma Mater meldet „Land unter“ und greift zum Rettungsring, „numerus clausus“ genannt.
Beispiele gibt es genug. Nur zwei seien hier erwähnt: Die Bonner Universität verzeichnet traurige Rekordzahlen, nämlich 14615 Hörer im Wintersemester 1966/67. Die Studentenziffer ist gestiegen, obwohl bisher im Winter stets ein Absinken zu verzeichnen war. Kein Wunder, daß 2550 Studenten in Bonn abgewiesen werden mußten. Denn steht der Universität das Wasser erst einmal bis zum Hals, ergreift sie Notwehrmaßnahmen. So verwehrte die Universität Bonn schließlich 1 300 Medizinern, 1 000 Pharmazeuten und 250 Zahnmedizinern das Studium.
Daß nicht nur bei den „klassischen numerusclausus-Fächern“ die Restriktionen überhandnehmen, zeigt das zweite Beispiel aus Frankfurt. Aufklärerische Soziologie-Professoren sah man dort durch den „objektiven Zwang des überstrapazierten Landeshaushalts“ zu Vorkämpfern restriktiver Maßnahmen gewandelt. Vorsichtig, doch unüberhörbar formulierte Prof. Habermas: „Die Erwägungen über den numerus clausus sind im ersten Vorstadium, sie sind ausgelöst worden von der Überzeugung, daß wir weiteren Zuwachs an Studenten nicht verkraften können. Das ist zunächst einmal die defensive Überlegung, auf jeden Fall müssen wir den Status quo einfrieren“. Prof. Habermas und seine Frankfurter Soziologie-Kollegen, die solchermaßen Wind gesät hatten, mußten Sturm ernten. Die Studenten beriefen eine Vollversammlung ein, auf der die Professoren Rede und Antwort standen. Im größten Hörsaal, der dennoch überfüllt war, sparten beide Seiten nicht mit Vorwürfen. Die Studentenschaft besteht generell auf der Forderung, die aktuellen hochschulpolitischen Engpässe nicht durch restriktive Maßnahmen, sondern durch die Ausweitung und Verbesserung des Systems von Bildung und Ausbildung zu beheben. So stehen die Zeichen für die universitätsinterne Auseinandersetzung auf Sturm.
Doch längst hat die Diskussion über den numerus clausus die Grenzen der Hochschule übersprungen und ist in der interessierten Öffentlichkeit entbrannt. Es hätte nicht der Umfrage des Springer-Renommier-Blattes DIE WELT bedurft, um festzustellen, daß sich die Universität ringsum im Lande mit dem numerus clausus einzurichten beginnen. Die Stellungnahmen der verantwortlichen Kulturpolitiker sind dafür symptomatisch. Will Bundesforschungsminister Stoltenberg die Entscheidung, ob das Abitur die alleinige Berechtigung zum Hochschulstudium bleiben soll, „der Beurteilung durch die Hochschulen und Kultusministerien überlassen“, wird der Präsident der Westdeutschen Rektoren-Konferenz (WRK) schon deutlicher: „Wenn aber dem Abiturienten aus Kapazitätsbeschränkungen der Hochschulen keine in der Qualität verantwortbare wissenschaftliche Ausbildung gewährleistet werden kann, müssen Zulassungsbeschränkungen Platz ergreifen. Hier liegt das entscheidende Problem der Schul- und Hochschulpolitik ab 1967.“ Weiter meint Prof. Sieverts: „Die Qualität künftiger Akademikergenerationen ist vornehmlich von den Hochschulen selbst zu verantworten“. Fraglich bleibt nur, ob nicht die Hochschulen auch die Quantität der künftigen Akademiker zu verantworten haben. Dieser Verantwortung werden sie nämlich nicht gerecht, wenn trotz des objektiv steigenden Bedarfs an Hochschulabsolventen der numerus clausus praktiziert wird. Lassen wir uns nicht von den trutzigen Dementis unserer Kulturpolitiker täuschen. Zwar sagt der bayrische Kultusminister Huber: „An dem Charakter des Reifezeugnisses als Hochschulzulassungsvoraussetzung muß festgehalten werden. Andere Lösungen wären in Deutschland systemfremd“; zwar meint der CDU-Kulturexperte Martin: „Die Erteilung der Hochschulreife sollte Sache der Schule bleiben. Das ist rationeller und gerechter als ein Auswahlverfahren an der Hochschule“; zwar erklärt der SPD-Kulturpolitiker Lohmar kategorisch: „Ich halte jede Form des numerus clausus für ein Übel, weil er dem verfassungsmäßigen Recht auf eine angemessene Ausbildung widerspricht“; doch die Einführung des numerus clausus an den westdeutschen Hochschulen ist unter der Hand längst beschlossene Sache. Unter dem Druck der Verhältnisse werden die mutigen Dementis der Kulturpolitiker ebensowenig zukunftsträchtig sein, wie jenes berühmt berüchtigte Wort des Rainer Barzel: „Ludwig Ehrhard ist und bleibt Bundeskanzler“.
Für den Bund gesteht Minister Stoltenberg offen: „Die neuen Studienpläne und die veränderten Arbeitsbedingungen an den Hochschulen werden sich auf den Bedarf für wissenschaftliches und sonstiges Personal und auch den Bedarf an Sachmitteln auswirken. Die dafür erforderlichen zusätzlichen Aufwendungen werden die Mittel übersteigen, die bislang in die Haushalte für 1967 und später eingeplant worden sind“. Nichts ist gegen die Forderung des WRK-Präsidenten Sieverts -einzuwenden: „Die Notwendigkeit der mittelfristigen, etwa drei Jahre vorausblickenden Finanzplanung ist offenkundig“. Doch Pläne sind genug geschmiedet, die Universitäten müssen endlich Taten sehen. Von allen Bundesländern hat lediglich Baden-Württemberg eine Erhöhung der Mittel für die Hochschulen in Aussicht gestellt: „Es hat sich herausgestellt, daß zusätzliche Mittel erforderlich sind. Ein Teil der Mittel ist bereits im Haushaltsentwurf für 1967 bereitgestellt. Über die endgültige Höhe der benötigten Mittel liegen noch keine genauen Unterlagen vor“. Man beachte auch hier den vorsichtigen Ton, weiß man doch, daß die Mittel für Hochbauten im Lande rigoros gekürzt wurden (Siehe DISKUS 6/1966, S. 7). Im ganzen werden wir in der Bundesrepublik 1967 kaum einen verstärkten Ausbau der überlasteten Hochschulen erleben. Vor dem Trumpf der schrumpfenden Staatseinnahmen paßt die Kulturpolitik.
Zwei Engpässe charakterisieren unsere gegenwärtige Hochschulunbill: 1. das Fehlen sachlicher und finanzieller Mittel zum Ausbau der Universitäten (daran wird sich auch 1967 nichts ändern, wie wir gesehen haben) und 2. die mangelnde Vergrößerung des Lehrkörpers. Trifft der erste Vorwurf den Staat, so sind für den zweiten Engpaß vomehmnlich die Hochschulen selbst, genauer die sie verwaltenden Ordinarien verantwortlich. Unverständlicher Starrsinn und kaum verhohlener Konkurrenzneid zementierten auf Jahrzehnte ein veraltetes Habilitations- und Berufungssystem und verhinderten das Heranwachsen des wissenschaftlichen Nachwuchses in erforderlicher Zahl. Was als vermeintliche Aufrechterhaltung der Qualität deklariert wurde, war in Wahrheit ein willkürliches Niedrighalten der Quantität der künftigen Konkurrenz. Selbstverständlich läßt sich die Zahl der Hochschullehrer nicht grenzenlos (und vor allen Dingen nicht kurzfristig) vergrößern; doch die Sünden der Vergangenheit rächen sich jetzt bitter.
Keinesfalls rechtfertigt das aktuelle Mißverhältnis von Studenten und Dozenten den Optimismus weder des Ministers Schütte („Von einem Nachwuchsmangel kann schon jetzt generell nicht gesprochen werden“) noch des Professors Sieverts („Die Förderungsmöglichkeiten für Habilitanten sind breiter denn jemals in der deutschen Universitätsgeschichte“). Dagegen erkennt der SPD-Kulturpolitiker Lohmar das Gebot der Stunde: „Die Selbstverwaltung der Universitäten und ihrer Fakultäten stehen hier vor einer entscheidenden Bewährungsprobe. Es müssen im ganzen mehr junge Wissenschaftler die Chance bekommen, die Hochschullehrerlaufbahn einzuschlagen.“ Auf dieser Linie liegen auch die Forderungen des FDP-Abgeordneten Moersch: ,,a) Entlastung der Assistenten von Verwaltungsaufgaben durch vermehrten Einsatz von Verwaltungskräften in den Instituten und auch bei den Lehrstühlen; b) Verzicht auf den Grundsatz, daß zur Habilitation nur zugelassen wird, wer eine große Arbeit vorlegt und von einem Lehrstuhlinhaber zur Habilitation vorgeschlagen wird. Jeder Doktor sollte sich um die Habilitation selbst bewerben können ... und außerdem müßten die Fakultäten auch mehrere kleine Arbeiten von wissenschaftlichem Rang akzeptieren oder die Beteiligung an Forschungsteams zur Grundlage der Habilitation machen.“ Niemand, der die Verhältnisse an unseren Universitäten kennt, wagt zu hoffen, daß sich die Universitäten jetzt zu Reformen im Sinne des Herrn Moersch bereitfinden werden. Wieviel leichter ist es für die akademischen Senate, Zulassungsbeschränkungen für die Abiturienten zu verhängen, als die Modernisierung des Habilitations- und Berufungsverfahrens durchzusetzen. Ein Unterfangen, das im eigenen Kollegenkreis denkbar unpopulär wäre, weil es Abstriche von ersessenen Privilegien zur Konsequenz hätte. Daß in der aktuellen Hochschulmalaise so und nicht anders entschieden werden wird, offenbart die wahre Machtrelation an unseren Hochschulen. Die Universität ist eine Ordinarien-Universität, sie mag bei Interessenparallelität die Interessen der Studenten patriarchalisch mitwahrzunehmen. Im Falle der Interessenkollosinon zieht der Schwächere (der Student) den kürzeren.
Die Frage der Tageszeitung DIE WELT vom 4. Januar 1967: „Kommt der totale numerus clausus?“ ist längst keine Frage mehr. Die Antwort ist präjudiziert durch eine kurzsichtige Kulturpolitik in Bund und Ländern, durch die autoritäre Herrschaftsstruktur unserer Hochschulen d. h. die einseitige Machtkonzentration bei den Ordinarien. Den letzten werden werden die Hunde beißen. Die Zulassungsbeschränkungen zum Studium können nach Meinung des WRK-Präsidenten Sieverts nur vermieden werden, „wenn die Hochschuletats und die Baumittel erheblich steigen, sie von Sperrungen und globalen Kürzungen freigehalten und die Baumaßnahmen der öffentlichen Hand durch neue Organisationsformen beschleunigt und verbilligt werden, nur wenn das erkennbare und berechenbare Anwachsen der Abiturientenzahlen voll für den Ausbau der Hochschulen jeweils mehrere Jahre vorher berücksichtigt wird“. Da sich die staatliche Kulturpolitik nicht in der Lage sieht, diesen Forderungen zu entsprechen, gehen unsere Universitäten in Igelstellung. Sie zeigen den Bildungswilligen die Stacheln ihrer administrativen Selektion. Was hilft es denen, wenn sie ohnmächtig die Zertifikate ihrer andernorts bescheinigten Hochschulreife vorschützen. „Wir müssen doch eine Relation feststellen zwischen dem, was wir können und dem, was die Studenten mit gutem Recht wollen. Das ist doch wirklich unser identisches Interesse in diesem Fall.“ Der Soziologie-Professor Habermas dürfte wissen, wie der Kompromiß ausfällt, zwischen dem, der die Macht hat und dem, der nur ein „gutes Recht“ hat. Daß die Universitäten nicht anders „können“, eben dies macht ihre Schuld aus.
Mit der Einführung des numerus clausus an unseren Hochschulen hat die fortschrittliche Kulturpolitik in der Bundesrepublik eine wichtige Schlacht verloren.
Hans-Joachim Steffen