Es begann mit einer öffentlichen Abendveranstaltung, auf der die Bundesvorsitzenden des SDS, Reimut Reiche und Peter Gäng und das Mitglied des Zentralrats der FDJ, Günter Schneider, die „Konzeptionen“ ihrer Deutschlandpolitik darstellten. Die Position der FDJ war dabei relativ klar, weil bekannt: eine Zusammenfassung der verschiedenen Deutschlandpläne der SED. Deren Ausgangspunkte sind die Existenz, und zwar die friedliche Existenz der DDR und die Existenz, allerdings Alleinvertretung und Grenzrevision beanspruchende Existenz, der BRD. Angestrebter Endpunkt ist nicht primär „Wiedervereinigung“, sondern „Konföderation“. Die Bedingungen für diese Konföderation sind: Anerkennung der DDR, Aufgabe territorialer Forderungen von Seiten der BRD, Ausscheiden aus den militärischen Blocksystemen, Abrüstung, Aufgabe des Anspruchs auf Kernwaffen — allesamt Forderungen, die sich unter dem Programm der „friedlichen Koexistenz von Staaten mit verschiedener Gesellschaftsordnung“ zusammenfassen lassen. Die Betonung liegt dabei auf „friedlich“. Und weil die DDR, wie auch vom SDS anerkannt wurde, „friedlich“ ist, entsprach das generell den Absichten der FDJ, über den Teil Deutschlands zu diskutieren, oder besser, über denjenigen deutschen Staat, der „nicht friedlich“ ist: die Bundesrepublik. Die Strategie zur Verwirklichung dieser „Konföderation“ in den Augen der FDJ ist, was die handelnden Individuen in der BRD angeht: Stärkung aller „friedliebenden Kräfte“. Dieses Programm ist nur in einem sehr vermittelten Sinn sozialistisch, wenn man als Basis für sozialistische Analyse und sozialistische Strategie annimmt: daß der „Frieden“ und die Erfolgschancen der „friedliebenden Kräfte“ von der ökonomischen Struktur einer Gesellschaft und der ökonomischen Eigendynamik der kapitalistischen Gesellschaft abhängen. Ganz konsequent teilten auch die FDJ-Vertreter während sämtlicher Seminardiskussionen den Kapitalismus in einen Rüstungskapitalismus und in einen friedlichen Kapitalismus und zwar in einer — wie die SDS-Vertreter argumentierten — falschen Übertragung des produktiven und des nichtproduktiven Kapitals.

Die Vertreter des SDS haben ihren Kollegen von der FDJ in vielen Punkten zugestimmt, was die Entwicklung der Bundesrepublik und was die Entwicklung der DDR anbetrifft. Das hat viele Seminarteilnehmer, die nicht vom SDS waren und anschließend die gesamte Presse zu der Irrmeinung geführt, es bestünden „keine Differenzen" zwischen SDS und FDJ. Auf den entscheidenden Unterschied haben aber sämtliche SDS-Referenten in ihrer Kritik an der „Konföderationsstrategie“ der DDR hingewiesen. So sagte Elmar Altvater (SDS München) in seinen Thesen: „Demokratische Umgestaltung der BRD, von der in den DDR-Publikationen so viel die Rede ist, bedeutet Entmachtung des Rüstungskapitals; und da Rüstung eine notwendige Konsequenz kapitalistischer Strukturen überhaupt ist, die Aufhebung des Kapitalismus durch Sozialisierung“. Und so sagte Ursula Schmiederer (SDS Marburg): „Nicht nur die Wiedervereinigungspläne (der BRD), sondern auch die Konföderations- und Föderationspläne (der DDR) umgehen die eigentlich entscheidende Frage: die nach der Möglichkeit einer Koordinierung der antagonistischen Struktur der ökonomischen und sozialen Verhältnisse in den beiden deutschen Staaten. Tatsächlich basieren die DDR-Vorschläge auf der Vorstellung, daß die politische Macht von Arbeitern und Bauern in der BRD allein ein sicherer Garant für eine Wiedervereinigung wären. Sie bleiben damit vorerst im Bereich der Utopie“.

Der SDS hat mit allem Nachdruck klarzumachen versucht, daß eine „Wiedervereinigung“ nicht stattfinden wird, jedenfalls nicht nach dem „Annexionsmodell“ der BRD und nicht nach dem „Konföderationsmodell“ der DDR. Nach letzterem nicht aus den obigen Gründen und nach ersterem nicht, weil die BRD im Machtgefüge der westlichen kapitalistischen Länder zu schwach und zu isoliert ist, um eine Annexion der DDR durchzusetzen zu können, selbst vor ihren westlichen Bündnispartnern, die aus ökonomischen Gründen an einer Machtverschiebung, die von der BRD ausgeht und nur mit militärischer Gewalt durchgesetzt werden könnte, kein Interesse haben können. Nicht ganz zu Unrecht ist darum auch gesagt worden, der SDS habe die FDJ „von links überholt“. Denn der SDS hat vordergründig und vielleicht ironisch eine sozialistische Einheit mit der FDJ postuliert, von der er wußte, daß sie da nicht existieren kann, wo sie dem „Koexistenz“-Programm der DDR widerspricht. So sagte Reimut Reiche in seiner Einleitung zum Seminar: „Wir sind uns hoffentlich mit der FDJ darin einig, daß eine .Wiedervereinigung“ Deutschlands nur erstrebenswert und nur realistisch ist auf der Basis der Transformation der kapitalistischen Produktionsverhältnisse in der BRD in sozialistische und darin, daß diese Aufgabe die Aufgabe der abhängigen Schichten in der BRD selbst ist“. Und Peter Gäng verdeutlichte die potentiellen „Nebenwirkungen“ einer „friedlichen Koexistenz“, selbst wenn die wesentlichen Punkte einer kleinen Lösung nach den Vorstellungen der Regierung der DDR erfüllt wären: „daß die Bundesregierung den Krieg der USA in Vietnam weiter unterstützt und direkter unterstützt als bisher, und gleichzeitig, daß sich die DDR so viel und so wenig in die inneren Verhältnisse der BRD einmischt wie bisher. Wir glauben, dieser Preis für eine Koexistenz sollte für ein so starkes und perspektivenreiches Land wie die DDR zu hoch sein“.

Auf solche Fragen konnte sich die FDJ nicht einlassen. Sie hatte vielleicht erwartet, über die Mauer und über Biermann Antwort geben zu müssen. Davor hat sie der SDS-Bundesvorsitzende Reiche noch geschützt als er eine Diskussion nach der Einführungsveranstaltung mit den zornigen Worten verhinderte, man wolle hier keinen Schlagabtausch vor den Seminarsitzungen, weil die BRD dabei nur gewannen würde, weil sie auf dem eigenen Platz kickt. Aber auf einer Diskussion der Einschätzung der Zentren der revolutionären Weltbewegung und auf eine Zuweisung des Deutschlandkonflikts und entsprechend der „Deutschlandpolitik“ auch für sozialistische Länder auf einen Platz „unter ferner liefen" hat der SDS bestanden. So entstand die leicht widersprüchliche Situation, die das ganze Seminar fast zur Erfolglosigkeit verurteilte, daß der SDS von sich aus ein Seminar durchführte, von dem er von vornherein wußte, daß es das Thema „Wege einer Deutschlandpolitik" verfehlen würde — mindestens in den Augen der FDJ und der Nicht-SDSIer. Den Adressaten nicht nennend hat es der SDS doch an die Adresse der FDJ gesagt, warum er dies Seminar durchführte: „Eine Politik, die Entspannung betreibt auf dem Rücken der unterdrückten Nationen wäre konterrevolutionär“ (Gäng). Damit war das mangelnde Engagement der Sowjetunion und der DDR für Nordvietnam, für die FNL und für die anderen sozioökonomischen Befreiungsbewegungen der Länder der III.

Welt gemeint, ein mangelndes Engagement das der SDS ursächlich in der sowjetischen Strategie des möglichst reibungslosen Aufbaus der schon existierenden sozialistischen Länder begründet sah Aber vielleicht haben sich die FDJ-Funktionäre und die in der FDJ engagierten jungen Wissenschaftler diese Fragen überlegt. Und vieleicht ziehen sie es dann vor, ihre Konföderations-Thesen vor einem Publikum in der BRD vorzutragen und mit einem Publikum zu diskutieren, das noch mehr auf eine „Wiedervereinigung" hofft als der SDS. Wenn das der Fall ist, könnten die FDJler vielleicht ein paar Trümpfe ihres Landes und ein paar Vorzüge hrer Konföderationstheorien besser einsetzen, als sie das auf dem SDS-Seminar konnten Der SDS brauchte nicht davon überzeugt zu werden, daß die Politik der Bundesregierung deutschlandfeindlich ist und daß von der DDR nicht zu erwarten ist, daß sie freiwillig ihre gesellschaftliche Position aufgibt. Um den Schritt, der über die Anerkennung der DDR hinausgeht, nämlich um die materielle Legitimation der DDR als eines gesellschaftlichen Systems vorzubereiten, sollte sich die FDJ in ihrem nteresse an einer Öffentlichkeit wenden, die über den SDS hinausgeht, auch an der Universität. Der SDS hat gleichzeitig ein wissenschaftliches Seminar „zweier sozialistischer Organisationen" veranstalten und die grundgesetzpflichtige Wiedervereinigungsdiskussion in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit vorführen wollen. Die politischen Organisationen, angefangen mit denen an der Hochschule, die noch mehr an die Wiedervereinigung glauben als der SDS, sollten sich von dem vielen Aneinandervorbeireden, das auf diesem Seminar geliefert wurde, nicht beirren lassen. Der SDS der an Entspannung nicht glaubt, weil seine ökonomischen Einsichten (oder Theorien) ihn von deren langfristiger Unvereinbarkeit mit dem Kapitalismus überzeugt haben, hat Entspannung an der Frankfurter Universität demonstriert. Die FDJ-Delegation war — verständich genug — wirklich ein maßlos nervöses und unsicheres Häuflein, das seine aus zwanzig Jahren Nicht-Anerkennung resultierende Spannung in übergroßer Starrheit und Sturheit bewältigte. Die SDSIer haben ihnen hoffentlich soviel Mut gemacht, daß sie sich bald ihr Land in selbstbewußterer und flexiblerer Form und mit substantielleren Argumenten zu verteidigen und zu kritisieren getrauen, als es auf diesem Seminar noch der Fall war. Das wäre schon ein Fortschritt, der eine Grundvoraussetzung ist für eine nicht verzerrte Diskussion der beiden deutschen Staaten. 20 Jahre getrennte Entwicklung in 2Tagen gemeinsamen Seminars aufholen zu wollen, das ist eine schwere Sache Helmut Spang