Das klassische deutsche Bildungsideal ist aus der Spannung zwischen bürgerlichen Gesellschaftsverhältnissen und antikem Bildungsbegriff entstanden. Wilhelm von Humboldt orientierte seine humanistische Bildungsidee an der griechischen, auf die geistige Freiheit des Individuums gerichteten Vorstellung und räumte, da er zwischen Menschsein und Bürgersein unterschied, den menschlichen Bildungsforderungen die Priorität vor den bürgerlichen ein. „Gewiß ist es wohltätig, wenn die Verhältnisse des Menschen und des Bürgers so viel als möglich zusammenfallen“, doch dürfen die bürgerlichen Interessen „nur so wenig eigentümliche Eigenschaften fordern, daß sich die natürliche Gestalt des Menschen, ohne etwas aufzuopfern, erhalten kann.“ Humboldt urteilt skeptisch über jede vom Staat organisierte allgemeine Erziehung; ihr müßte „die freieste, so wenig als möglich schon auf bürgerliche Verhältnisse gerichtete Bildung des Menschen vorangehen ... Jede öffentliche Erziehung aber, da immer der (bürgerliche) Geist in ihr herrscht, gibt dem Menschen eine gewisse bürgerliche Form“, die schädlich ist.

Humboldts Ansicht, Bildung durch reine Wissenschaft sei nur in Einsamkeit und Freiheit von öffentlichem Einfluß möglich, hat Aufbau und Lehrpraxis der deutschen Universität bestimmt. Falsch wäre freilich die Vorstellung, Humboldts Bildungsidee sei die Theorie des Elfenbeinturms, weil sie ein weitabgewandtes Gelehrtendasein rechtfertige oder gar als Bildungsziel fordere. Die klassische deutsche Bildungsidee erscheint heute nur deshalb als Inbegriff von Kontemplation und Praxisferne, weil sie, in dieser Gestalt institutionalisiert, ihre gesellschaftliche Grundlage überlebt hat. Ursprünglich war sie gerade auf die Praxis des öffentlichen und beruflichen Lebens gerichtet, insofern die Freiheit und Einsamkeit der Universität die beste Gewähr für die Bildung des Menschen boten, der dann im praktischen Leben kraft seiner Bildung das Menschsein gegen das Bürgersein erfolgreich verteidigen konnte und bei der Gestaltung seiner Lebensverhältnisse stets den .Menschen als Maß der Dinge' nahm. Deutlich hat Fichte die Praxisbezogenheit der Bildung betont, als er schrieb, „daß das Wissen allein unter der Bedingung einen Wert habe, wenn es tätig sei.“ Die innere Spannung des bürgerlichen Bildungsbegriffs spiegelt sich in der Forderung des Novalis, daß die Menschheit vor jedem Schritt, den sie zur Beherrschung der Natur durch Technik vorwärts tue, zunächst drei Schritte zur ethischen Vertiefung tun müsse. Gerade weil der technische Fortschritt die Priorität der Moral gefährdete, mußte ihre Stellung gefestigt werden. Erziehung war vor allem Bildung des „moralischen Menschen“ (Humboldt); sie konnte am besten in der Einsamkeit der Universität im „expressen Sokratischen Dialog“ (Fichte) zwischen Lehrer und Schüler realisiert werden. Noch Nietzsche forderte, eine „wahre Bildungsinstitution“ dürfe keine „Anstalt für Lebensnot“ sein, sie solle nicht „möglichst courante 1 ) Menschen bilden“, sondern „in einer innerlichen Erneuerung und Erregung der reinsten sittlichen Kräfte“ ihr Ziel sehen.

Im 18. und früheren 19. Jahrhundert drängten die inneren Widersprüche des bürgerlichen Bildungsbegriffs nicht zur Entscheidung. Die bürgerliche Subjektivität als Kern des Individuums war zwar in der Unstimmigkeit zwischen Individuum und Gruppe, Gesellschaft begründet, doch standen diese sich nicht in unvereinbarem Gegensatz gegenüber, sondern bildeten zwei Zentren innerhalb des Gesellschaftssystems. Etwas von der durch .Arbeit' vermittelten Einheit — nicht Identität — des individuellen Lebens mit dem gesellschaftlichen steckt noch in der alten deutschen Vorstellung vom .Beruf', in dem jemand aufgeht und der für ihn Lebensaufgabe und Lebenssinn zugleich ist.

Im 18. Jahrhundert wurde Bildung „für die Klasse der Kaufleute und Händler zu einer Voraussetzung ihrer Gewerbetätigkeit“; „die bürgerliche wie jede andere Bildung hatte in spezifischen Interessen, ohne doch in ihnen aufzugehen, ihr Fundament“. Durch die gesellschaftlichen Wandlungen im Verlauf der zunehmenden Industrialisierung verlor diese bürgerliche Bildung den Charakter der Notwendigkeit und wurde zum Luxus oder Ornament und ist heute nach Max Horkheimer eher Hindernis als Hilfe. Im Beziehungsfeld von .Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit' bewahrte die bürgerliche Bildung noch in der Aufklärung etwas von Erlösung und Hoffnung ihres religiösen Erbes.

Je zwingender aber der Leistungsbegriff über seine ökonomischen Grenzen hinaus zum allgemeinen Maß für Wert oder Unwert sich durchsetzte, desto mehr verlor die auf den .moralischen Menschen' konzentrierte Bildungsidee ihre realen Grundlagen.

Der bürgerliche Bildungsbegriff entstammte in Gestalt und Inhalt einem Klassen-, nicht dem Gesellschaftsinteresse. Er erfüllte sich in der Universität, war aber als Leitgedanke für die allgemeine Volkserziehung unbrauchbar. Theoretisch waren zwar Volksbildung und gelehrte Bildung durch die Vorstellung einer .allgemeinen Menschenbildung' miteinander verbunden, doch für die Praxis und das auf sie gerichtete Denken blieb die ,Zwei-Klassen-Theorie' (Schelsky) ein Axiom; sie unterschied, im Einklang mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, „zwischen einer religiös bestimmten Volkserziehung und der .Bildung durch Wissenschaft und Kunst“'.

In unseren Begriff .Allgemeinbildung' — einmal synonym für umfassende Elementarbildung mit hohem Niveau gesetzt — sind große Teile der bürgerlichen Bildungsidee eingegangen. Er ist das Ergebnis des demokratisch egalisierenden Versuchs, den Unterschied zwischen Volks- und Elitebildung zu beseitigen und bedeutet die Relativierung, aber nicht die prinzipielle qualitative Veränderung der bürgerlichen Bildungsvorstellung. Zentrum bleibt weiterhin der .moralische Mensch'.

Der Philosoph und Soziologe Leo Löwenthal hat am Beispiel der Sozialforschung gezeigt, daß eine Wissenschaft beim Tausch ihres ursprünglichen Bezugssystems gegen ein anderes ihre innere Struktur und Teleologie verändert: „Die empirische Sozialforschung nimmt im modernen Leben ... zuviel als gegeben hin. Sie weist die Aufgabe von sich, die Phänomene in einen historischen und moralischen Zusammenhang einzuordnen. Zu Beginn der Neuzeit diente die Theologie den Gesellschaftstheorien als Vorbild, aber heute haben die Naturwissenschaften die Theologie ersetzt. Ein solcher Wandel der Modellvorstellungen hat weitreichende Konsequenzen. Das Ziel der Theologie ist die Erlösung, das der Naturwissenschaft die Manipulation; die eine führt zu Himmel und Hölle, die andere zu Technik und Industrie“. Durch einen ähnlichen Wechsel seines Bezugssystems hat der bürgerliche Bildungsbegriff eine entscheidende qualitative Veränderung erfahren. Er wird heute in zweckrationalen Kategorien beschrieben, die nicht mehr aus den Geisteswissenschaften, sondern aus der Planungswissenschaft stammen. Der Philosoph, der bei Platon und Humboldt trotz aller Unterschiede die Bildungsidee symbolisiert, hat seinen Thron für ein Team von Planungsspezialisten und Technokraten geräumt.

Solange man annahm, daß die Industriealisierung automatisch ins Himmelreich auf Erden führen werde, war möglichst schnelle Vorwärtsbewegung des technischen Fortschritts das erstrebenswerteste Ziel. Daß er Selbstzweck werden könnte, vermutete man nicht. Wilhelm von Humboldt glaubte zwar an die Veränderung der überkommenen Kultur durch den Fortschritt der Wissenschaften, doch nicht daran, daß die technischen Wissenschaften sich von der Kultur emanzipieren und ihr die Gesetze vorschreiben würden. Humboldt übernahm nicht den statischen antiken Kulturbegriff, dem Paul Barth zufolge „ein Element unseres Begriffes von Kultur (fehlt),... nämlich das Merkmal der Bewegung, der ununterbrochenen Steigerung von Kultur", sondern teilte den alten allumfassenden Begriff und verwendete zum erstenmal mit Nachdruck den Terminus .Civilisation'. Barth schreibt darüber: „Civilisation ist ihm .die Vermenschlichung derVölker in ihren äußeren Einrichtungen und Gebräuchen und der darauf Bezug habenden inneren Gesinnung. Oie Kultur fügt dieser Veredelung des gesellschaftlichen Zustandes Wissenschaft und Kunst hinzu. Beide, Civilisation und Kultur, sind demnach Leistungen der Gesellschaft; die Bildung hingegen scheint Sache des Einzelnen zu sein, .etwa zugleich Höheres und mehr Innerliches, nämlich die Sinnesart, die sich aus der Erkenntnis und dem Gefühle des gesamten geistigen und sittlichen Strebens harmonisch auf die Empfindungen und den Charakter ergießt.'“ Hier wird offenbar, daß der deutsche Bildungsbegriff einer Sphäre zugehört, in der man sich nichts träumen ließ von dem, was der technische Fortschritt zwischen Himmel und Erde noch bewirken würde. Hier haben Bildung und Planung nichts gemeinsam. Weil Bildung bei Humboldt ein „Höheres“ für den Einzelnen war, konnte er deren Vermittlungsinstitution, das Bildungswesen, noch als eine von vielen Funktionen im Reproduktionsprozeß der Gesellschaft sehen. Die funktionale Interpretation des Bildungsbegriffs besorgte Henri de Saint-Simon, ein Zeitgenosse Humboldts. Er erkannte in der Planung das Grundprinzip der künftigen industriellen und gesellschaftlichen Entwicklung. Für Saint-Simon und seine Schule begann das neue, das .positive Zeitalter' mit der Begründung der universalen Planungswissenschaft. Damit erscheint der Plan zum erstenmal als etwas Allgemeines und zugleich Konkretes, nämlich als „Inbegriff aller Anstrengungen, die von der Menschheit geleistet werden müssen, will sie ihr Daseinsproblem meistern.“ Der Totalitätsanspruch der Rationalität, unter deren Zeichen sich von nun an die gesamte industrielle und gesellschaftliche Entwicklung vollzieht, ist auch der der Planung.

Die Saint-Simonisten stellen die Erziehung ganz in den Dienst des industriellen Fortschritts; wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung muß sie in allen Details besonders sorgfältig geplant werden. Nach saint-simonistischer Lehre zerfällt die Erziehung in die sittliche oder allgemeine und in die berufliche oder besondere Erziehung. Die sittliche Erziehung „hat die Aufgabe, die Gedanken und Gefühle mit den sozialen Zielen in Einklang zu bringen, jeden das, was er tun soll, gern und willig tun zu lassen. Sie bemächtigt sich des Menschen von Geburt an und begleitet ihn sein ganzes Leben. Sie macht den Menschen für alle Veränderungen, für den Fortschritt der Menschheit empfänglich und läßt ihn diesem innerlich zustimmen“. Einige Zeilen weiter heißt es: „Der Fortschritt der Macht der sittlichen Erziehung kann ... als wichtigste Erscheinungsform des Fortschritts der Freiheit betrachtet werden, die vor allem darin besteht, das zu lieben und zu wollen, was getan werden muß." Die berufliche Erziehung vermittelt die Kenntnisse, „die zur Erfüllung der verschiedenen Arbeiten oder Funktionen der künftigen Gesellschaftsordnung notwendig sind. Durch sie soll jeder einzelne an den Platz gestellt werden, der ihm zukommt und an dem er sich verdient machen kann.“ Die logische Konsequenz aus der Allmacht des technischen Fortschritts ist für das Bildungswesen, daß es sich dessen Anforderungen nicht nur unterwirft, sondern sich mit ihnen identifiziert. Folgerichtig entwickelt Saint-Simon eine Anpassungslehre, wie man sie heute aufgrund empirischer Daten nicht besser konstruieren könnte. Freilich wagt kein westlicher Wissenschaftler eine ebenso deutliche Sprache, doch deuten sogar die Vorschläge eines im guten bürgerlichen Sinne gebildeten Forschers wie Hellmut Becker in dieselbe Richtung, wenn er „Zuverlässigkeit, Mobilität und Weltverständnis“ als die heute wichtigsten Eigenschaften nennt, die die Erziehung im Menschen heranbilden müsse. Becker betont, daß es nicht darum geht, „den Menschen der Gesellschaft anzupassen, sondern im Menschen die Eigenschaften zu bilden, die es ihm ermöglichen, in der modernen Gesellschaft zu bestehen“, aber er untersucht nicht, ob gerade der durch die Industrialisierung geschaffene Reichtum es nicht gestattet, auf menschenwürdigere Weise in der modernen Gesellschaft zu überleben als durch Verinnerlichung der beiden wichtigsten Forderungen, die jede gute Maschine erfüllen muß, nämlich .Zuverlässigkeit' und .Mobilität'. Als die beiden Hauptpunkte der gegenwärtigen Bildungsdiskussion (soweit sie nicht mitTagesfragen beschäftigt ist) gelten: die Abhängigkeit des industriellen Fortschritts von einem hohen Niveau allgemeiner Bildung einerseits und die Notwendigkeit zur Planung aller Bildungsinstitutionen andererseits hat auch Saint-Simon schon als solche erkannt, doch waren sie bei ihm funktional auf eine Gesellschaftsutopie bezogen, die weit in der Zukunft dank schnellen industriellen Fortschritts einmal Wirklichkeit werden sollte, während sie sich heute aus dem Zwang zur industriellen Expansion selbst ergeben. Diese Expansion wird nicht zu bewußter Gestaltung oder Veränderung der Gesellschaft benutzt, sondern es scheint, daß die Gesellschaft sich blind der Eigengesetzlichkeit des industriellen Fortschritts anpaßt und unterwirft. Die Planungsfähigkeit der Dinge ist heute das universelle und vor allem nicht mehr wertfreie Kriterium, nach dem sie beurteilt werden, und .Effizienz' heißt die Kategorie, in der der Rationalitätsgrad eines Prozesses sich angeben läßt und in der festgestellt wird, wie gut die Planung war. Die Folge von alledem ist die „Antiquiertheit des Menschen“ (Günther Anders) in dem Maße, wie er nicht planbar oder manipulierbar ist.

Hellmut Becker hat mit Blick auf die Praxis versucht, die Position der Freiheit in der modernen Gesellschaft zu bestimmen. „Wenn wir nicht auf Freiheit verzichten wollen, muß der Mensch lernen, die Grenzen seiner Freiheit selbst zu ziehen“. An anderer Stelle schreibt er: „In der modernen Gesellschaft bedeutet das Fehlen eines Plans oft nicht etwa Freiheit, ... sondern die Diktatur des Anonymen und daher Verantwortungslosen“. Beckers Freiheitsbegriff ist hier ziemlich unscharf, doch scheint er sich eher auf die planmäßige Herstellung von Inseln der Planfreiheit innerhalb der total geplanten Gesellschaft zu beziehen als auf die subjektive personale Freiheit, für deren Entfaltung ja schließlich die Inseln geplant sind. Becker setzt voraus, daß der Mensch die entfaltbare personale Substanz besitzt und will ihr den Raum zur Entfaltung freimachen. Seine Annahme ruht, mit Dolf Sternbergers Worten gesagt, „auf humanistischem Grunde“, denn er rechnet „mit der menschlichen Unvollkommenheit“, d. h. mit Planungsfähigkeit wegen konstitutioneller Irrationalität. Wie unsicher man heute auf humanistischem Grunde steht, erkennt man, wenn man Sternbergers Forderung, Politik solle „das Gute ... bewirken, das allgemein Beste“, als Bildungsziele formuliert: Bildung soll fähig machen, das Gute, das allgemein Beste zu erkennen und Mittel und Wege zu finden, es auch herbeizuführen. Kein Humanist hätte sich vorstellen können, daß das allgemeine Beste einmal von Computern errechnet werden müßte, weil Menschen es nicht mehr entscheiden könnten Da wir mit der Atombombe leben, wissen wir, daß das Gute fast nie mehr eindeutig gut ist. Kein Wissenschaftler in Ost und West dürfte heute Leonardo da Vinci nachahmen, der seine Methode lange Zeit unter Wasser zu bleiben, wegen „der böswilligen Natur der Menschen“ nicht aufschrieb. Zwei Tendenzen laufen gegeneinander: das subjektive Gewissen hat seinen Grund in der .Unberechenbarkeit des einzelnen Menschen', insofern müßte Irrationalität als personale Bedingung der Freiheit gefördert werden; um die universale Vernichtung zu vermeiden, muß möglichst alles einschließlich des Menschen planfähig und berechenbar gemacht werden. Daß dieses Pro blem keine abstrakte Konstruktion ist oder sich nur für einen kleinen Personenkreis stellt, kann man Hannah Arendts Buch über Eichmann entnehmen, das sie einen .Bericht von der Banalität des Bösen' nennt. Eichmann ist der Prototyp des funktionsfähigen Menschen.

Die Chancen der Irrationalität als Grundlage des Gewissens und der personalen Freiheit zu Entscheidungen gegen den Zwang der Sachen scheinen schlecht zu stehen. Nicolaus Sombart knüpft an Saint-Simon an, wenn er schreibt, es sei unabwendbar, die Planungstechniken so zu verfeinern, daß „sie es erlauben, das NichtPlanbare, insbesondere die fundamentale Irrationalität des Menschen als vorgegebene anthropologische Größe, einzuplanen. „Das sei heute durch Kybernetik möglich. „In ständigem Wechselspiel von Rückkopplung und Neuanpassung tastet der Plan sich an der Grenze zwischen Katastrophe und möglicher Fortführung des Unternehmens an die optimale Lösung heran“. Die Programmierung bestimmt das Maß der .Freiheit'. Da selbst die „vorgegebene anthropologische Größe .Irrationalität'“ psychologisch und, wie es scheint, bald auch genetisch manipulierbar und somit variabel ist, wird dann Mannheims Frage: „Wer plant die Planer?" zu einem Grundproblem der Bildungstheorie.

Was bisher gesagt wurde, galt hauptsächlich den Problemen der Planungsfähigkeit von Bildung und der objektiven Notwendigkeit einer möglichst umfassenden Planung des Bildungswesens und der Bildungsinhalte, beschäftigte sich nur indirekt mit den Grundlagen und Methoden der Planungspraxis. Dieses Vorge hen steht im umgekehrten Verhältnis zu der Beachtung, die in der einschlägigen Literatur über Bildungsplanung den theoretischen Aspekten geschenkt wird. Die Bildungsplaner konzentrieren sich darauf, erst einmal die wichtigsten statistischen und organisatorischen Informationen zu sammeln und zugleich die offenbaren Mißstände des gesamten Bildungswesens kurzfristig zu beseitigen. Diese berechtigte Konzentration auf die Tagesfragen ergibt freilich, daß die Planungsprinzipien und hre Konsequenzen kaum kritisch reflektiert werden und daß Theorie und Praxis sich immer weiter voneinander entfernen. Auch dieser Überblick fügt sich jenem Sachverhalt, wenn im folgenden Abschnitt über einige Probleme der Bildungsplanung — diesmal mit dem Akzent auf Planung — berichtet wird.

Nach Dahrendorf werden die „entwickelten Gesellschaften der Gegenwart nicht mehr durch ihre militärischen oder wirtschaftlichen, sondern durch ihre Bildungsinstitutionen geprägt und können daher als „Bildungsgesellschaften“ definiert werden. In allen jüngeren politischen Grundsatzerklärungen erscheint die Entwicklung des Bildungswesens als Hauptproblem der Gegenwart und Zukunft, denn in ihr sieht man das wichtigste Instrument zur Bewältigung der Zukunft In allen Industrieländern hat der Staat mindestens die Kompetenz für die Rahmenplanung des gesamten Bildungswesens. Die Finanzierung geschieht zum allergrößten Teil direkt oder indirekt über die öffentlichen Haushalte Keine politische Entscheidung über die Entwicklung des Bildungswesens ist ohne wissenschaftliche Grundlage möglich. Die beiden Hauptprobleme sind: 1. Ausbau des gesamten Bildungswesens vom Kindergarten bis zu den Einrichtungen der Erwachsenenbildung und Intensivierung der Grundlagenforschung in allen Disziplinen, 2. allgemeine Niveausteigerung aller Bildungseinrichtungen, besonders Erhöhung des allgemeinen Bildungsstandarts der gesamten Bevölkerung.

Diese Aufgaben können nur durch nationale und internationale Bildungsplanung gelöst werden. Die wichtigste Rolle spielt dabei eine neu entstandene interdisziplinäre Wissenschaft: die Bildungsökonomie. Sie sammelt alle, das Bildungswesen betreffenden technisch-organisatorischen, wirtschaftlichen, sozial- und kulturwissenschaftlichen Daten, setzt sie miteinander in Beziehung und versucht, auf dieser Basis einen allgemeinen Organisationsplan für das gesamte Bildungswesen auszuarbeiten. Bildungsökonomie befaßt sich „mit den organisierten Lehr- und Lernprozessen in all ihren Lebensbezügen: das heißt nicht nur mit ihren Finanzen, sondern auch mit ihrer Effizienz; nicht nur mit der speziellen Berufsbildung, sondern auch mit der Entwicklung des gesamten Begabungspotentials; nicht nur mit den betriebswirtschaftlichen Problemen der Schule, sondern auch mit der Gesamtwirkung der Bildungsarbeit auf den wirtschaftlichen Wohlstand; nicht nur mit dem, was bisher war, sondern auch mit dem, was zu erwarten ist oder was sein sollte“. Sie will die Erkenntnisse und Methoden der Wirtschafts- und Sozialforschung auf den Bereich der Bildungseinrichtungen anwenden. Die schönsten Farben dieses breiten Aufgabenspektrums verlieren allerdings an Leuchtkraft, weil „Bildungswerte und geistige Leistung in vollem Sinn nicht adäquat in Zahlen faßbar sind“ und dem Statistiker auch keine Definition „des Gesamtzwecks der Bildung gelingt“. Zudem ist die Eignung wirtschaftswissenschaftlicher Kategorien fragwürdig; „Wirtschaftlichkeit und Rentabilität des Bildungsaufwands (sind) nicht in derselben Weise meßbar wie es in der produzierenden Wirtschaft üblich ist“, und Angebot und Nachfrage für Bildungseinrichtungen werden von Faktoren beeinflußt, von denen viele nicht eindeutig zu messen und andere, z. B. politische Entscheidungen, im allgemeinen gar nicht vorauskalkulierbar sind. Einige Tatbestände wie z. B. der positive Zusammenhang zwischen Bildungsaufwand und Sozialprodukt erscheinen als Gesetzmäßigkeiten, können aber nur als Korrelation, nicht in ihrer Kausalbeziehungen festgestellt werden. Trotz dieser Einschränkungen, die vor allem die Theorienbildung und nicht so sehr die praktische Arbeit behindern, kann die Bildungsökonomie für die bedeutendsten Planungsvorhaben recht genaue Unterlagen liefern.

Das Bildungswesen eines Landes muß heute international konkurrenzfähig sein. Voraussetzung einer wirkungsvollen Bildungsplanung ist die Einrichtung einer zentralen Stelle, die entweder in eigener Regie oder in Zusammenarbeit mit unabhängigen Instituten, Organisationen und Beratungsgremien Rahmenpläne für Aufbau und Entwicklung des Bildungswesens als ganzem und seiner einzelnen Bereiche herstellt. Diese Zentrale muß weitreichende Kompetenzen haben, um die politischen und finanziellen Bedingungen zu schaffen und entsprechende Entscheidungen und Verwaltungsmaßnahmen durchzusetzen, damit die Pläne auch verwirklicht werden können. Sehr erfolgreich und im demokratischen Staat besonders wünschenswert ist die Einschaltung politisch neutraler Fachgremien, auch die durch Rentabilitätsforderungen nicht behinderte Forschungsarbeit der großen privaten Stiftungen hat sich als nützlich erwiesen, weil sie im Gegensatz zu staatlich finanzierten Institutionen in großem Maßstab zweckfreie Grundlagenforschung betreiben können.