Inzwischen hat eine Veranstaltung über das Brecht-Theater stattgefunden. Referent war der Sekretär des Arbeitskreises Bertolt Brecht (abb), Andrä Müller. In seinem Vortrag wies er darauf hin, daß Brecht die „Courage“ im Hinblick auf den von ihm vorausgesehenen Ausbruch des Zweiten Weltkrieges geschrieben hat.
Einen zweiten Aspekt des Stückes unterstrich Müller besonders, nämlich die Absicht Brechts, darauf hinzuweisen, daß die Menschen aus Katastrophen nichts lernen. Die „Courage“ zieht auch am Ende des Stückes weiter, in der Hoffnung, ihren Schnitt zu machen, ohne einen Einblick in ihre Situation gewonnen zu haben. Die Situation der europäischen Völker, die dabei waren, sich wieder emmal für einen Krieg mißbrauchen zu lassen, war ausschlaggebend für Brechts Entschluß, seine „Courage“ zu schreiben.
Müller wies daraufhin, daß sich Brecht über die Einflußmöglichkeiten des Theaters auf die Gesellschaft keinen Illusionen hingegeben habe. Er habe durchaus gesehen, daß er die gesellschaftlichen Verhältnisse durch das Theater allein nicht verändern könne, dennoch habe er in der Theaterkunst als der öffentlichsten aller Künste eine Möglichkeit gesehen, Einfluß auf die gesellschaftliche Entwicklung zu nehmen. Dazu war es nötig, das traditionelle Theater zu ändern. Um die Welt verändern zu können, mußte er sie als veränderbar darstellen. Sein „episches Theater" entspricht dieser Einsicht. Die Diskussion drehte sich vor allem um die Frage, welche Momente für die Wirkung eines Theaterstückes entscheidend seien. Der Referent wandte sich gegen die Auffassung, den gesellschaftlichen Erfolg eines Stückes einseitig vom Publikum abhängig zu machen. Ganz im Sinne Brechts vertrat er die Ansicht, daß das Publikum zu einer kritischen Haltung erzogen werden könne. Als Beispiel nannte Müller das Publikum in der DDR, besonders das von Ostberlin. Durch die einmalige Gelegenheit viele gute Theater in ihrer Stadt vorzufinden seien die Ostberliner zu einem Publikum geworden, das wohl verstehe, schlechte von guten Aufführungen zu unterscheiden. Eine Nation entschließe sich dort manchmal, ins Theater zu gehen oder nicht.
Um gute Inszenierungen zu machen, bedarf es guter Regisseure, langer Probenzeiten und Ensembles, die wenigstens solange zusammenbleiben, wie das Stück aufgeführt wird. Der Mangel an guten Regisseuren und festen Ensembles ist oft erwähnt worden. Er hängt zusammen mit unserem Theatersystem, das auch Grund für die kurzen Probenzeiten ist. Bei uns gehen die Geldgeber im allgemeinen davon aus, daß ein Stück eine bestimmte Summe des als Subvention gegebenen Geldes wieder einspielen muß. Um kein Risiko durch den freien Kartenverkauf einzugehen, verkaufen sie die Stücke zu 80 Prozent durch Abonnements. Um dieses Abonnementpublikum zu befriedigen, sind die Theater gezwungen, möglichst alle sechs-acht Wochen ein neues Stück herauszubringen. (Schauspiel Frankfurt 1965: 8 Premieren, 8 Wiederaufnahmen bei insgesamt 375 Aufführungen = durchschnittliche Anzahl der Aufführungen 23,4 pro Stück oder nach jeweils 22,8 Tagen wurde ein neues Stück herausgebracht.) So werden alle Stücke unter Zeitdruck erstellt, Hauptdarsteller und Regisseure nur für einige Wochen verpflichtet und die Stücke bald wieder abgesetzt oder umbesetzt.
Um also auf dem Theater in unserem Lande wirksam sein zu können, müßte man das ganze Theatersystem ändern. Da sich aber ein kritisches Bewußtsein auf dem Theater schlecht von einem allgemein-kritischen Bewußtsein trennen läßt, wird es wohl in absehbarer Zeit nicht zu dieser Änderung kommen. Es wurde in der Diskussion ganz deutlich gesagt, daß die Aufführung eines Brechtstückes vor einem geschulten Publikum in unserem Lande letztlich eine Änderung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zur Konsequenz haben sollte. Versuche mancher Autoren, die Zuschauer durch Schockstücke aufzurütteln, müssen erfolglos bleiben, da sie in die falsche Richtung gehen. Sie wollen ihren Zuschauern Schluckbeschwerden verursachen und werden geschluckt, als Delikatesse. Josef Wiest