Faust in der Tasche
Demonstrationen, die nicht friedlich verlaufen, und Übergriffe der Polizei gegen Demonstranten, hauptsächlich gegen Studenten, sind wohl fe oinc- BoiTT ne. Spezialität. Aber andersw^ erscheinen danach auch kritische Berichte über das Vorgehen der Polizei. So zum Beispiel in der Münchener Lokalpresse nach den Schwabinger Zwischenfällen.
Das passiert der Polizei in Berlin nur selten, und letzthin immer seltener. Da waltet Springer, und was ihm noch nicht gehört, hat sich doch in der Berichterstattung weitgehend angeglichen. Seit dem 17. Oktober 1806 heißt es in Berlin: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Und, soweit es nicht gegen den Osten geht — auf der anderen Seite umgekehrt — gilt dies .erste' Berliner Gebot noch heute. Verstöße werden von derLokal-Presse streng geahndet. Die Ostberliner Maxime von der parteiischen Berichterstattung gilt auch in Westberlin, wo sie sogar ohne Überwachung durch Staat und Partei eingehalten wird. Auch darin ist der Westen dem Osten über.
Die Polizei hat für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Und für den Straßenverkehr. Das hat sie gelernt. Daß sie darüber hinaus auch noch das Grundrecht der freien Meinungsäußerung zu schützen hat ist eine Zumutung ziemlich jungen Datums, zugegeben, und hat sich noch nicht überall herumgesprochen. Polizei und Lokalpresse scheint das noch unbekannt zu sein. Auch entspricht das gar nicht der Berliner Tradition, und dabei ist doch Tradition gerade wieder so sehr in Mode. Aus dieser besonderen Berliner Tradition soll hier anhand einiger Vorfälle berichtet werden Nachdem der Bundespräsident Ltibke für eine zweiteAmtsperlode für diesen Posten nominiert worden war,gab es erhebliche Unruhe. In Berlin demonstrierteneinige Studenten am Kurfürstendamm gegen diese No-minierung. Die Polizei beschlagnahmte Ihre Plakate.Daraufhin schrieb Dr. Adolf Arndt einen Leserbrief andas Spandauer Volksblatt:„Ist der Berliner Polizei unser Grundgesetz nicht be-kannt? Nach der Rechtsprechung des Bundesverfas-sungsgerichts gelten die Grundrechtsvorschriften desGrundgesetzes auch In Berlin. Der Artikel 5 des Grund-gesetzes gibt jedermann das verfassungskräftige Grund-recht, seine Meinung In Wort, Bild und Schrift frei zuäuBern. Jedem steht es deshalb frei, sich ein Schildumzuhängen und darauf eine politische Meinung kund-zutun, wie immer es ihm gefällt, solange er damit nichtgegen allgemeine Gesetze wie das Strafrecht (z. B. Be-leidigung) verstöBt. Jedem steht es frei, mit einemsolchen Schild auf eine öffentliche StraBe zu gehen.Die Polizei ist nicht befugt, das zu unterbinden, ImGegenteil, sie Ist verpflichtet, solche Meinungsäuße-rungen zu schätzen. .Einschreiten' kann die Polizei nur,wenn z.. durch Ansammlungen — der öffentliche Ver-kehr gestört wird. Aber dann muB sich nach Polizei-recht das Vorgehen gegen die Störer richten. Störersind nicht die Demonstranten, die ihre Meinung öffent-lich äuBern, sondern die Neugierigen, die verkehrs-widrige Ansammlungen bilden.“ Die letzten größeren Zusammenstöße gab es ausgerechnet zum ,Tag der Menschenrechte'. In Berlin und anderen Städten Westeuropas war zum 10. Dezember zu Vietnam-Demonstrationen aufgerufen worden. Der genehmigte Weg führte durch überwiegend leere Straßen. Diese Route mußte wie eine Bestätigung der These wirken, nach der schein-demokratische Gesellschaften Demonstrationen, die unter Polizeischutz durch menschenleere Nebenstraßen geführt werden, als liberales Alibi benutzen. Weil das ihrer Absicht widersprach, versuchten die Demonstranten auf belebtere Straßen auszuweichen. Sofort machte die Polizei Jagd auf die Plakate — einige wurden an Ort und Stelle zerrissen andere beschlagnahmt, 55 blieben auf der Strecke — und begann wahllos drauflos zu schlagen. Mit dieser Brutalität erreichte die Polizei, was verhindert werden sollte. Die Auseinandersetzung verlagerte sich zum Ku’damm, wo die Gummiknüppel im Gewühl des langen Silbernen Samstags nicht mehr zwischen Passanten, Kauflustigen und Demonstranten unterscheiden konnten Deshalb richtete der FU-AStA an Albertz die dringende Bitte, dafür zu sorgen, daß die Polizei künftig in ihren Aktionen nicht mehr den Boden der rechtsstaatlichen Demokratie verieße. Das gewalttätige Vorgehen mehrerer Beamter und zahlreiche Aktionen der Polize hätten „das Prinzip der Verhältnismäßigkeit der einzusetzenden Mittel grob verletzt“. Albertz reagierte empört: Wenn Beschwerden über die Polizei vorgebracht würden, „dann möchte der Bürgermeister Roß und Reiter genannt haben“ CDU und Springer-Presse, Industrie- und Handelskammer bekamen Angst. Denn für den nächsten Samstag wurde eine neue Demonstration angesetzt, um gegen die Schläger in Uniform zu protestieren. Aber inzwischen hatte sich ein Import aus Amsterdam mit der ProvoDevise durchgesetzt: ,Spaß ist die revolutionärste Sache der Welt“. Das Ziel: „Die versteinerte Autorität der Lächerlichkeit preisgeben“. Ein neuer Versuch, sich nicht die Formen der Auseinandersetzung von der Polizei vorschreiben zu lassen; die kann besser prügeln.
Diesmal wurde gefordert: „35-Stunden-Woche für den Freund und Helfer!“ damit die Polizisten „mehr Muße für die Bräute und Ehefrauen haben, um im Liebesspiel Aggressionen zu verlieren“. „Die Polizei braucht eine Muse. Wir denken an Beate Uhse!“ Gesammelt wurde für „sturmfeste Kerzen für die Mauer“ ebenso wie für „Warme Wäsche für die Polizei!“. Mehr Zeit für die Polizei, „um den alten Passanten die Demokratie zu erklären“. Unter einem Weihnachtsbaum wurde gesungen: Ihr Kinderlein kommet, oh kommet doch all.Zum Kudamm herkommet, Polizei macht Kra-wall. Und seht, was in dieser hochheiligenStadt, der regierende Pfarrer für Dienerlein hat.
Der Staat war bedroht. Diesmal kommandierten ältere Zivilisten: politische Polizei und Verfassungsschutz. Mehrere hundert Wachtmeister stürzten sich, auf Befehl, wie sich einige entschuldigten, auf das Publikum, schlugen und verhafteten, was ihnen unter die Finger geriet. Ein Käufer kam aus einem Laden, wurde von der Polizei angetrieben, stolperte und fiel zu Boden. Gleich droschen einige Gummiknüppel auf ihn los. Festgenommen, und in einen Überfallwagen geschmissen. Ein Passant ging hinterher, um empört nach der Dienstnummer zu fragen. Festgenommen. Ein andrer Passant machte mit seiner Verlobten einen Einkaufsbummel. An einer Menschenmenge blieb er stehen, doch als ihm ein NPD-Werber seine Zeitung vorhielt, löste er sich sofort mit der Bemerkung: „Ihr wollt wohl noch einmal alles kaputt kriegen!“ Bereits wieder im Verkaufsgewühl untergetaucht, fühlte er sich am Arm gezogen: Mitkommen! Festgenommen. Acht Stunden stehen. Und so weiter Laut Tagesspiegel war ab fünf Uhr alles vorbei. Um sechs erschien ein Einzelgänger mit einem Plakat: Bürger nicht Unternanen! Namensschilder fürPolizisten! Demokratie nicht Polizeistaat! Fürden Freund und Helfer! Gegen Schläger in Uni-form!
Kaum war er ein paar Schritt gegangen, und die ersten Passanten fingen an das Plakat zu entziffern, stürzten sich von hinten ein paar Zivilisten auf ihn, rissen ihm das Plakat ab und schubsten ihn auf die Fahrbahn zwischen die quietschenden Autos. Alles, ohne Ausweis oder Marke zu zeigen, Namen oder Nummer zu sagen. Passanten, die hinterherkamen, um nach der Dienstnummer zu fragen, wurden gleich mitverhaftet. Resultat: acht Stunden stehen In Berlin hat sich die Industrie- und Handelskammer besorgt gezeigt. Da werden sich die Auseinandersetzungen sicherlich noch mehr verschärfen. Daß innenpolitische Gegner brutal niedergeknüppelt werden ist ja nicht neu Im Industriezeitalter kehrt die städtische Polizei mit modernen Schlagmethoden zur mittelalterlichen Stadtstaatpolitik zurück, um städtische Wirtschaftsinteressen zu rechtfertigen. Schließlich geht es ja dabei um Millionen.
Muß man noch unbedingt erwähnen, daß solange mit keinem Ende der Auseinandersetzung zu rechnen ist, bis der Polizeistaat gesiegt hat. Oder bis Heinrich Albertz, regierender Pfarrer, begreift, daß seine Polizei nicht allein die „Ordnung“, sondern vorallem Meinungsfreiheit und Demokratie zu schützen hat. Für einen Frontstadt-Schädel keine leichte Lektion