Absicht der Sendereihe, die der HessischeRundfunk unter dem Titel „Das Tagebuch undder moderne Autor“ veranstaltete, war derVersuch, heute lebende Schriftsteller mit derAnnahme, das Tagebuch sei antiquiert, zu pro-vozieren', so erläutert Uwe Schultz die von ihm herausgegebene Anthologie, die ausgewählte Beiträge der Sendereihe präsentiert. Die Autoren sind: Wolfgang Koeppen, Marie Luise Kaschnitz, Heinrich Böll, Elias Canetti, Günther Anders, Ulrich Sonnemann, Hans Werner Richter, Arno Schmidt. — Was eine Absicht, die der Versuch war, zu pro-vozieren, erbringen kann, das versucht die servile Fügung, absichtslos freilich, garnicht erst zu verbergen: eine unverbindliche Enquete, eine Kompilation von .Stellungnahmen', die die unvereidigten Zeugenaussagen der Literaten zum eigenen Fall einem zerstreuten Publikum nachsichtig zur Kenntnis bringt. Weniger eine literarische Angelegenheit, als eine der Betriebs-Soziologie also. Dafür liefern die Beiträge von Hans Werner Richter und Heinrich Böll die schönsten Beispiele. Jener landet, nach einigen gewundenen Erklärungsversuchen dafür, daß er kein Tagebuch schreibt, schließlich eilig am Ufer der Literatursoziologie: ,Unter dem Druck der soziologischen Ver-änderungen und Entwicklungen', gemeint sinddie sozialen, ,lallen auch die großen Formen.Zu ihnen gehört das Tagebuch. Würde ich michheute hinsetzen, um ein Tagebuch zu schrei-ben, es kämen sofort die Zweifel. Ist die Per-son, die da das eigene Leben schreibt — meinIch — noch mit sich identisch? Die moderneFrage nach der Identität ließe sich nicht ver-meiden und alles würde sofort weiter in sichzusammenfallen.' Die .moderne Frage nach der Identität' scheint eher die unvermeidliche Pflichtübung in der Rolle .moderner Autor' zu sein. Heinrich Böll gibt nur .Stichworte' aus seinem Tagebuch und erspart sich die Reflexion auf die Form. Was Richter mühelos mißlingt, scheint ihm mühelos zu gelingen: die Dokumentation des .eigenen Lebens'. Im Fall Richter ausgezeichnet durch Prominentenbekanntschaften, im Fall Böll durch das Ende des zweiten Weltkriegs. — ,Vor Dokumenten wird', so Walter Benjamins Einsicht,' ,ein Publikum erzogen'. Dies ist der eine Pol, an dem sich die Beiträge kristallisieren: das Tagebuch als Dokument, als Pädagogicum, im Gegensatz zum Kunstwerk, v/obei erzogen' auch den Sinn von .erzeugt' erhält. So schreibt Wolfgang Koeppen: ,Die Idee desgroßen Tagebuches, die mich beschäftigt hat,wäre nur mit einer Art Elektrozephalogrammzu verwirklichen, einem Gerät, das nicht Wör-ter, nicht einmal das in Wörter übersetzte Den-ken, sondern das Denken selbst aufzeichnete.Ein ganzes Leben lang und mit allen Empfin-dungen und Sensibilitäten. Ein solches Doku-ment auch nur einer einzigen Autoren-Existenzwürde, transskribiert, gedruckt, gebunden,wahrscheinlich schon räumlich (!) das Fas-sungsvermögen der größten öffentlichen Bi-bliothek überschreiten. Der Dichter ist ein un-ausgeschöpftes Wesen. Er hat sein Pfund nichtausgepackt. Gemessen an diesem Gut derganzen, der ausführlichen Wahrheit ist jedesTagebuch eine Fälschung, ein unlauterer Ge-schäftsbericht, oder anders ausgedrückt, einAusschnitt, eine Wahl, ein frisierter Gedanke,Kunst.' Hier wird die Anhäufung von Aktenmaterial mit der Akkumulation von Erfahrung verwechselt; diese Verwechslung tritt bei Günther Anders in anderer Gestalt auf. Ihm mißbehagt das Tote, Abgelegte an der Tagebuchform, die im Kalendarium stabilisierte Erinnerung blind gegenüber einer gefährdeten Zukunft. Sein .negatives Tagebuch' will Dokumente der Gefahr, des Mißlingens, der Beschädigung vorlegen: damit sie erkannt, ihre Ursachen beseitigt werden. In welcher Weise seine .Warnbilder' so direkt in politische Wirkung übergehen könnten, wie er es bei ihrer Aufzeichnung beabsichtigt, bleibt freilich dunkel. Koeppens .Großes Tagebuch' setzt beim Publikum ein unbegrenztes antiquarisches Interesse voraus, Anders’ .negatives Tagebuch ein spontanes moralisches Bewußtsein. In beiden Fällen springen die .modernen Autoren nicht über den Schatten der Form.

Marie Luise Kaschnitz und Elias Canetti sind bescheidener. Bei ihnen soll das Tagebuch als Mittel der Selbsterziehung funktionieren; bei jener als Arsenal literarischer Einfälle, als Übung der Erinnerung an einer flüchtigen Gegenwart, Jakobs Kampf mit dem Engel vergleichbar: ,lch lasse Dich nicht, Du segnest mich denn’. Bei Canetti vor allem als Medium des Gewissens, das Ereignisse aufbewahrt, die sonst verdrängt würden. Mit diesem Gewissen will Canetti aber allein bleiben: er faßt sein Tagebuch in einer Geheimschrift ab und spielt mit dem Gedanken, es vor seinem Tod zu verbrennen; .Warnbilder' sollen seine Aufzeichnungen nur für ihn sein.

Sowohl Frau Kaschnitz, als auch Canetti möchten das Tagebuch außerhalb des Rahmens der .Autoren-Existenz' als Medium der Erinnerung und des Gewissens für jedermann rekonstruiert sehen: erst dadurch würde die Form lebendig. — Der andere Pol, an dem sich die Beiträger versammeln: das Tagebuch als Kunstform; bei Koeppen schließlich die einzige für den .modernen Autor': er zieht zum Beweis hurtig Kierkegaard wie Hiob heran; wird prononciert von Arno Schmidt dargestellt: ,... ein TB mußzwangsläufig ungeordnet ausfailen: dem Kis-met ist es ziemlich wurscht, ob Einer seineFreundin vor oder nach dem Examen, am 1.8. oder am 17. 2. „zu sich nimmt“: der Ver-fasser, der sich als mögliches Fachwerk fürsein Buch das TB wählte, kapitulierte damitvor dem Form-Problem. Das TB ist das Alibider Wirrköpfe; ist einer der Abörter der Lite-ratur.' So ist es in Wahrheit kein Pädagogicum, weder öffentlicher noch privater Erziehung; ein Dokument, das als Material kaum ästhetisches Interesse verdient; es dient ihm lediglich als Beleg fürs Finanzamt.

Ulrich Sonnemann schließlich mißtraut dem Tagebuch als dem .Alibi der Wirrköpfe', aus politischen Gründen: die Form korrespondiert der zwanghaften Innerlichkeit, dem bornierten Ethos des .eigenen Wegs', in dem Jugendstil und Jugendbewegung die Enttäuschungen der .entzauberten Welt'verdrängten; die in Deutschland schließlich zum Nationalzosialismus führte. , Selbst wo es explizit als eines geführt wur-de, ist das Tagebuch, soweit es die Mit- undNachwelt überhaupt etwas anzugehen ver-mochte, nie, wie mir scheint, der Schatten desIch, sondern gerade der Schattensprung überdieses gewesen.'Michael Rutschky