Dieses Buch bedient sich literarischer Mittel um politisch zu wirken. Es benützt politische Argumente, um Einsicht zu erzeugen. Es macht einsichtig durch Analyse, geboren aus dem Dialog.

Ein Vater sitzt mit seinem Sohn zusammen. Ihr Thema: Deutschland, seine Geschichte, die Mentalität seiner Menschen, das Pathos seiner Gedanken und schließlich die Unbelehrbarkeit der Herrschenden.

In einhundertunddrei Gesprächen wird Bilanz gezogen. Der dramaturgische Kniff, den Müller anwendet, ist einfach genug. Gewonnen wurde er aus den formalen Prinzipien der Brechtchen Flüchtlingsgespräche. Die Variationen hier: Der Vater, klug geworden durch die Erfahrung, durch die historischen Ereignisse verlustiggegangen der irrationalen Ideologien und Theoreme dieses Jahrhunderts, gibt dem Sohn zu bedenken. Der Sohn, verhaftet in emotionaler Argumentation, die mit all dem befrachtet ist, was der Vater mühsam abgelegt hat, widerspricht und — verliert.

Was Richard Mathias Müller, ein schreibender Studienrat aus Köln, auf diese Weise vorlegt, sind Gedankenspiele, kunstvoll und einfach zugleich. Die Sprache ist nichts. Sie ist einzig den Argumentationslinien dieser Spiele verpflichtet. So entstehen Denkmodelle wie: 1. Der Sohn erregt sich gegen das Aufbauschen der Massaker an den europäischen Juden und führt als Gegenbeispiel die Opfer der Aussiedlung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten an. Also „Heimatvertriebene“ contra Auschwitz. Der Vater schließt die Auseinandersetzung und den provozierten Vergleich: der Unterschied bestünde nur darin, daß man die Ausgesiedeiten schließlich habe noch zählen können.

Oder: 2. Der Sohn beklagt die vielen, sinnlos gefallenen Soldaten der deutschen Wehrmacht. Der Vater erinnert, ihr Tod war nicht sinnlos, er befreite Deutschland vom Faschismus.

Oder: 3. Aus dem nämlichen Grund fordert der Vater den 9. Mai 1945, den Tag der deutschen Kapitulation zu einem Staatsfeier- und freudentag zu erklären. Der Sohn opponiert mit nationaler Schande.

Oder: 4. Gegen den Sohn und die bundesüblichen Kategorien meint der Vater, Wahrheit würde nicht apriori falsch dadurch, daß sie von Kommunisten ausgesprochen wird.

Und so weiter. Und so weiter. Jeder dieser Dialoge ist in sich gebrochen und zwar dort, wo der vordergründige Leser annimmt, der Vater flüchte in seiner Argumentation zu Zynismen wie „man hat sie noch zählen können" etc. Doch solches ist weniger zynisch als: An den Scheitelpunkten der Diskussion stellt der Autor durch den Vater eine Umkehrung, die Annahme der Möglichkeiten, daß die Ereignisse auch anders als landläufig beurteilt werden könnten. Durch dieses Umkehren ereicht er, daß der Leser den ersten Schritt zur Einsicht zurücklegt, daß er das Gegenteil seiner Meinung ins Spiel läßt, einer dialektischen Betrachtungsweise Raum gibt. Das führt zumeist beim unreflektiert sprechenden Sohn, der wie ein Vexierbild, gebakken aus BILD-Zeitung und FAZ wirkt, zur Aufgabe seiner Position.

Er sieht ein. Solches ist der einzige Zweck dieses Buches, das nicht Literatur sein will, sondern mit stilistischen und dramaturgischen Überraschungen kritisches Bewußtsein schaffen will. Wolfgang Vogel