Was heute als konstruktive Malerei präsentiert wird, machte vor rund 40 Jahren Ernst mit der Kunst. Der Garaus ästhetischen Zierats sollte die Kunst realisieren. Sie überlebte als ästhetische Konstruktion subjektivster Erlebnisse. Tatlins Spirale zur Feier der Dritten Internationale, als vom materiellsten zum sublim Geistigen aufsteigendes Bauwerk gedacht, könnte heute das Guggenheim-Museum in New York sein, ein Museum (das sich im Abstrakten Kabinett Lissitzkys und Dorners 1923 in Hannover angekündigt hatte). Die künstlerisch der Ökonomie der Bedürfnisse huldigende Konstruktion verflüchtigte sich zur Bilddimension, die Bedürfnisse zum Anschauen, „alle kunst ist komposition und damit zweckwidrig ... die idee der komposition eines Seehafens ist zwerchfellerschütternd“ (Bauhausleiter Hannes Meyer 1928); die Formel des Architekten Sullivan konnte zum Schlagwort werden: Form follows function.

Eine Ausstellung „Konstruktive Malerei“ muß diese Entleerung und Erweiterung der Ästhetik berücksichtigen, muß anfangen und enden mit „Suprematie der reinen Empfindung in der Kunst“ (Malewitsch), notwendig Leere zeigendes Stückwerk bleiben, trotz Sammlermühen. Der Sinn, objektiv schlechte Lebensumstände, und das heißt vor allem schlechte, häßliche Wohnungen und Arbeitsstätten, zur guten Funktion wandeln zu können mit zweckmäßig schönen Architekturen, Möbeln, Haus- und Arbeitsgeräten blieb in ästhetischen Ansätzen stecken, aber nicht nur von subjektivem Interesse. „Man soll vor allen Dingen die nackte Wand wieder in all ihrer schlichten Schönheit zeigen und alle Überladenheit aufs Peinlichste vermeiden" (Berlage nach Banhams „Maschinenzeitalter"). Überlüde ein Plakat, Typographie, Film, Bild nach konstruktiver Manier die Wand, wären sie schon wieder Kunst und ästhetischer Einspruch? Die Realisierung in Architektur, Möbeln und Geräten verhilft den Konstruktionen zu ihrem Recht und zu ihrem ästhetischen Sinn. Wenn Chagall über die Witebsk-Akademie gesagt hat (Malewitsch, Lissitzky u. a.), für die Kunst sei nichts gewonnen, aber einige Herzen darin gebrochen worden, so trifft das auch die Konstrukteure und Monteure von stijl und Bauhaus, die nun schließlich fast alle im Heimweh nach der Kunst ihre Ästhetik nicht erfüllt zerbrechen sahen an einer Realität, die sich nicht ästhetisch harmonisierte. Man ist immer noch unterwegs „Tot en Beeidende Architectuur" im Sinne von T. v. Doesburg, der 1924 meinte: „Die neue Architektur ist funktionell; das heißt, sie entwickelt sich aus einer exakten Darlegung praktischer Bedürfnisse, die sie dann in einem verständlichen Plan zum Ausdruck bringt." Es wäre verfehlt, die Konstruktivismen als Herzenssache abzutun, wenn auch die Konstrukteure es oft nahezulegen scheinen. Malewitschs Ziel: „unmittelbar reine Formen erfahren“ konnte eben auch an der Unmittelbarkeit scheitern. Die Elemente der ästhetischen Gegenstände könnten als vermittelt und historisch gezeigt werden; in Grundmustern haben sie wirklich eine anonyme Geschichte, unbewußte Unmittelbarkeit an Gegenständen der Alltagspraxis, einig darin mit Dingen der ornamentreichen Folkloristik, was Manieristen und Formmagiern längst vertraut war. In magischen Quadraten, Harmonietypen wie dem Dreieck, einem Archetypus wie der Eiform stellte es sich dar; Bildrahmen legen Zeugnis davon ab.

Immer wieder sollte es sinnliche Gewißheit ergeben in höchsten ästhetischen und zweckmäßigen Formen; Nutzen und Schönheit kongruieren nicht aus vordergründig ökonomischen Gründen, die Maler zu angewandter Kunst treiben (ihre Not bildet sich durchaus in diesen ästhetisch pejorativ gewordenen Arbeiten als objektiv ab). Ins Bild gingen immer noch die Versuche der Realisierung ästhetischer Konstruktion ein. Sie erfüllte sich meist punktuell in Architektur, sie ist nicht ihrem Sinn nach ein Rückzug ins zweckfrei theoretische Modellieren. Brüchig und unvermittelt allerdings erscheint reine Kunst neben „nützlichen“ Formen der Gegenstände, ein Bruch von Eindeutigkeit der Struktur und unstrukturierter, mannigfaltiger Welt. Linie, Fläche, Grundfarben verklären sich mit dem Schein der Bestimmtheit durch unbestimmten ästhetischen Grund oder sogar religiöser Elan. Die reine Form ist dauernd in Gefahr, zum bildnerischen synthetischen Urteil a priori zu werden. Form soll schon je im Innern universal mystisch oder mathematisch gegründet sein, ihr Ideal wäre das kosmisch geordnete Wohnzimmer.

Was für de stijl eine mystische universale Horizontale und Vertikale bedeutete, gab sich im revolutionären Rußland als „reinster Ausdruck“ von Biomechanik etwa, geschichtliche Bewegung als „elektrodynamisches Theater“ (Titel einer Litho-Folge El Lissitzkys). Tatlin und all die anderen mußten sich Utopismus vorwerfen lassen und Maßlosigkeit; ein sinnreiches Pendant zu den Klagen über den Surrealismus und die „erotische“ Kunst. Bezeichnend wie schnell auch die fliegenden Pferde und grünen Kühe Chagalls bei Paraden in Witebsk zur musealen Erinnerung wurden, ebenso wie die konstruktive Kunst und die großartigen Architekturpläne, wie „turnende Biomechaniker und Akrobaten“, Groteske, Buffonerie, Exzentrik-Akte — sie verschwanden unter stalinistischem Nippes, der Maschinenkult geriet unter die Räder, in westlichen Staaten in die Räder, die künstlerischen Entwürfe dienten zu Ausstellungen, wurden Denkmäler einer künstlerischen Revolution. In der Sowjetunion halfen die Politiker, sich zu Kirchenvätern zu machen und den Konstruktivismus klischiert man in Massenparaden. Ein Weg vom technologischen Triumph über die Materie, vom ästhetischen Sinn zur tristesse eines sozialistischen Realismus. Der Dynamo als neue Marienstatue (bei Krinsky) funktioniert nicht, außer heute wieder in „ästhetischen“ Versuchen.

Die Interesselosigkeit in reiner Kunst bestätigt die Kritik, die ihr Interesse am bloßen Kunstwerk betont und den Sinn ästhetischer Konstruktion in das, was ein Bild ist, auflöst. Die Bilder sind nur, sie sind leer, zeigen nichts, drücken nichts aus, sind sistiert in ihrer Form, die Meditation, sich selbst Anschauen, bedeutet. Ihre mediative Funktion droht ins Ornamentale, in Zierat zu versinken; Abglanz einer Ästhetik, deren Menschlichkeit, funktionelle Form und Empfindung, mit Recht Ideologie genannt werden kann, weil das geschah, was dem aufgeklärten konstruktiven Zeitgenossen El Lissitzky nicht vorschwebte, längst aber ideologisch den ästhetischen Sinn austrieb. „Das Gemälde stürzte zusammen mit der Kirche und ihrem Gott, dem es als Proklamation diente, zusammen mit dem Palais und seinem König, dem es zum Throne diente, zusammen mit dem Sofa und seinem Philister, dem es das Ikon der Glückseligkeit war. Wie das Gemälde so auch sein Künstler“ (El Lissitzky).

Die gewiß nicht konstruktiven Produzenten der designs und die Museen häufen anarchisch ästhetische Produkte, so daß ein Paradoxon sich herstellte von Waren, die „konstruktiv" sind, Funktion (echtes Ornament genannt) und reichhaltigstes Wesen als Ware nämlich, zum anderen Bilder, die in sich erfüllte Funktion und Wesen bedeuten, damit aber allegorisch ihren Warencharakter erfüllen. Das abstrakteste wäre Geld (als Ware der Waren) und die Allegorie in Malewitsch’ Bild „Weiß auf Weiß“. Im Ästhetizismus der unter konstruktiv zusammengefaßten Bilder kehrt immer das eine Moment wieder: das Bild ist, was es ist; interesseloses Anschauen einer Funktion an sich, die den ausgetriebenen Gegenstand und dem Ornament sich wieder nähert, „denn Kunst sieht uns an ... Kunst ist nicht Gegenstand, sondern Erlebnis“ sagt Josef Albers (Homage to the Square). Die „restlose Erfüllung des Funktionellen" stände im Bild wieder ornamental „jenseits des Funktionellen“ (mit den Worten Moholy-Nagys). So bleibt der Konstruktivismus, was er ist, und zeigt nur in Eßgeräten, was er sein könnte? Vielleicht war das Bauhaus wirklich ein „Mönchsorden“. Es könnte auf den Konstruktivismus zutreffen, was Moholy-Nagy zu Photographie und Film sagte — er sei nur im sekundären Sinne angewandt worden.

D. H. Wittenberg