Angst - Psychologie Vorlesungsrezension
Andrea ReicheWer hat Angst vor Kindern? — Wovorhaben Kinder Angst?
ln den letzten Jahrzehnten wurden Hunderte von Untersuchungen veröffentlicht, die sich mit dem Problem der Angst beschäftigen. Im deutschen Sprachraum ist bisher aber noch keine Untersuchung erschienen, die zusammengestellt hätte, wovor gerade Kinder in den verschiedenen Altersstufen Angst haben. Lediglich verstreute Hinweise, ein Auszug aus einer ungarischen Untersuchung (Gereb-Szeged) und eine sehr kleine Emnidbefragung konnten ausfindig gemacht werden.
Am Seminar für pädagogische Psychologie der AfE der Universität Frankfurt, das unter der Leitung von Frau Professor Küppers steht, hat nun Frau Dr. Oestreich begonnen, ein größeres Forschungsprogramm zusammenzustellen, mit dem Ziel, diese Lücke zu schließen. In zahlreichen Untersuchungen beschäftigen sich die Mitglieder des Seminars und die Studenten mit der Frage: Wovor haben Kinder Angst? Bisher schrieben etwa 3000 Kinder im Alter von 8 bis 15 Jahren auf, wovor sie schon einmal Angst empfunden hatten. Dazu berichteten über 1000 Erwachsene mündlich oder schriftlich über die Ängste ihrer Kindheit und Jugendzeit. Auch in Autobiographien und Entwicklungsromanen wurden viele Hinweise auf angstauslösende Objekte und Situationen gefunden. Interessante Hinweise brachten zudem spezielle Befragungen, die sich auf Angsterlebnisse bezogen, die durch Film oder Schule ausgelöst waren. Die endgültigen Vergleiche der Ergebnisse sollen erst Ende 1967 erfolgen, wenn auch Material aus der Schweiz, aus Frankreich, Amerika und verschiedenen Ländern der Bundesrepublik ausgewertet wurde.
Eines zeichnet sich jedoch jetzt schon ab: neben Personen und Tieren steht in hohem Maß die Schule als angstauslösendes Erlebnis. In den Erinnerungen von Studenten wird sie als Angstanlaß Nr. 1 genannt, der bestimmte Situationen des Studiums überschattet. Bei jüngeren Kindern ist es die Angst vor Zensuren, vor dem Lehrer und vor Klassenarbeiten, später bewirken ganz allgemein Zeugnisse, Prüfungen oder Sitzenbleiben Angstgefühle. Hier nur drei Auszüge aus Aufsätzen, die das Thema hatten: Da hatte ich große Angst.
Junge, 7; 11 J., 2. Klasse: „Wenn ich mein Diktat zurückbekomme, dann habe ich immer Angst".
Mädchen, 7; 11 J., 2. Klasse: „Ich habe Angst, wenn ich in eine höhere Schule komme und vor dem Abitur. Davor habe ich Angst. Es macht mir Sorgen, wenn ich mein Zeugnis kriege.“ Mädchen, 12 J., 6. Klasse: „Ich habe noch keine Sorgen, bloß vor dem Zeugnis, daß ich nicht versetzt werde“ Die Schulängste gehen so weit, daß ganze Klassen vor dem Übertritt in eine weiterführende Schule oder vor der Schulentlassung in eine Art Panikstimmung geraten. In mündlich geäußerten Angsterinnerungen Erwachsener werden manchmal kaum glaubhafte Erlebnisse mit Erziehern innerhalb und außerhalb der Schule geschildert. Deutlich wird dabei immer wieder, daß es nicht so sehr die einzelne Maßnahme ist, die Angst auslöst, sondern daß die gesamte Erziehungsatmosphäre wichtig ist, in der jede Einzelhandlung letztlich eine latente Verängstigung in akute Angst Umschlagen lassen kann.
Wieweit man den Zustand, daß die Schule als „angstbeladenes Institut“ (Bennhold-Thommsen, Köln) zur Gefahr für die seelische Gesundheit des Kindes wird, beenden kann, ist fraglich. Bisher ist in dieser Hinsicht kaum etwas getan worden. Entscheidend aber ist, daß nicht die Schulen allein die Änderung dieses Zustandes durchführen können, sondern daß auch die Eltern, die durch falsch verstandenen Leistungsdrill erst die Angstbereitschaft ihrer Kinder wecken, daran mitwirken müssen.
Gisela Oestreich„Ein Beitrag zur sogenannten Vorle-sungsrezension“
Vielleicht sollte man einen anderen Begriff als Rezension suchen: Denn das, was damit erreicht werden soll, trifft dieser Begriff nur in einem Außenaspekt. Es geht nicht um Kulturkritik, um Empfehlungen oder die Besprechung eines „Werkes“. Wenn sich die Universität als Hüterin der Tradition und des zu tradierenden Bildungsgutes versteht, dann ist seit eh und je die ex cathedra gesprochene Vorlesung der Kern dieses Tradierens gewesen. Wo aber die Universität sich als jener Raum versteht, wo zukünftige Entwicklung ihren Ausgang nehmen (Lehre und Forschung nämlich!), dann kann die Vorlesung alten Schlages als Prototyp des autoritären Führungsverhaltens nicht mehr befriedigen — auch nicht den Dozenten. K. Lewin, J.-P. Ruppert und A. u. R. Tausch haben als wesentliches Merkmal dieses Stils die Eingleisigkeit der Kommunikationswege, die nurmehr von „oben“ nach „unten“ beschritten werden, herausgestellt. Es geht also in der „Vorlesungsrezension“ weder um eine Kritik der „Unmündigen“ am „Mündigen“, der „Sachfremden“ am „Eingeweihten“, auf keinen Fall auch um eine etwaige politisch tendenziös gefärbte „Kontrolle“, sondern es geht um die Reversibilität (Tausch) der Kommunikationswege, um die Überwindung der zementierten Ordnung eines „Oben“ und „Unten“ in einer sach- und situationsangemessenen Form der Begegnung, n der alle Beteiligten zu lernen bereit sind. Es wurde folgender Versuch gemacht: Im Sommer 1966 hatten im Rahmen einer zweistündigen Vorlesung über Psychohygiene sozialpsychologische, tiefenpsychologische, arbeitspsychologische und pädagogische Fragen im Vordergrund gestanden.
Am Ende der Vorlesungsreihe wurden die Studenten (überwiegend erste bis dritte Semester) gebeten, sich zu folgenden an dieTafel geschriebenen Fragen zu äußern: 1. Was wurde Ihrer Meinung nach zu ausführlich behandelt?
2. Was kam demgegenüber zu kurz?
3. Was fand Ihr besonderes Interesse?
4. Wo entdeckten Sie Mängel bzw. was fehlte Ihrer Meinung nach?
5. Persönliche Vorschläge Den Studenten stand die Namensnennung frei, ebenso, ob sie in Gruppen nach gemeinsamer Diskussion oder einzeln ihre Antworten abgeben wollten. Etwa 30 Studenten beteiligten sich; vier Blätter trugen den Vermerk Gruppenarbeit, 18 weitere Blätter wurden zum Teil allein, zum Teil in nachbarlicher Besprechung konzipiert.
Beispiele aus den Antworten zu Frage 1: Statistik zu viel...; Thema Angst zu viel im Hinblick auf die praktischen Ergebnisse für den Lehrer, Mutter- und Lehrertypen zu ausführlich .so nötig, daß von einem Zuviel nicht die Rede sein kann ...; Ein wenig störten mich die langen konkreten Ausführungen über Verhaltensweisen der Lehrer ihren Schüern gegenüber. Die Prozentzahlen, die vorgelesen werden, kann man sich in einer Vorlesung schlecht mitschreiben. Es wäre vielleicht besser, schwerpunktartig die wichtigsten Verhältnisse darzustellen, so daß nicht ein Gewirr von Zahlen bleibt, sondern einige Fakten ... Der Umfang des Behandelten schien mir zu groß, um nicht verwirrend zu sein...; Zuviel über Leistungskurven und Arbeitsrhythmen...“ u. a Beispiele zu Frage 2: Was kam demgegenüber zu kurz?
Zu wenig Tiefenpsychologie ...; ... Praktische Hinweise, wie der Lehrer helfend eingreifen kann...; Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus...; Vergleiche zwischen Kind- und Erwachsenenreaktion...; Noch mehr über die Erziehung des Kindes bis zum 6. Lebensjahr ...“ u. a Zu Frage 3: Was fand Ihr besonderes Interesse? 4. Mängel? Was fehlte? 5. Persönliche Vorschläge Hier wurden überwiegend sachliche aber auch subjektive Stellungnahmen beschrieben: „Die Darstellungen aus Tauschs Erziehungspsychologie fand ich besonders aufschlußreich für das Selbstverständnis als zukünftiger Lehrer“. Mehrfach wurden einzelne Sachbegriffe als besonders „interessant“ herausgestellt. Die Fragen 4 und 5 sollten gewissermaßen als „Kontrollfragen“ das zuvor Geschilderte präzisieren. Doch fühlten sich einige Studenten hier überfordert, da häufig mit dem Hinweis geantwortet wurde, daß für ein Erkennen der Mängel die Erfahrung fehle. Andere hatten den Mut zu konkreten Formulierungen: „Aus dem Buch .Helga' von Alfons Simon könnten noch passende Beispiele zitiert werden, z. B. Konfliktlösung mit einer Klasse ...“ „Wo blieben die angekündigten Turnübungen, die schädlich für bestimmte Altersgruppen sind?“ „Evtl. Filmvorführungen, die das Vorgetragene besser erläutern und die man diskutieren kann.“ Einmal wurde ein anderer Raum gewünscht und die Aufteilung der Zeit in zwei einstündige Vorlesungen. Eine Studentin bat, die Gliederung mit der zugehörigen Literatur auf hektographierten Blättern zu Beginn des Semesters zu verteilen. Zur Abrundung noch ein Zitat, das zwar ausgesprochen „unter die Haut“ ging, aber gerade deshalb eine Hilfe bedeutete: „Wenn Sie zur Verdeutlichung Beispiele aus Ihrer Berufspraxis bringen, dann sollten immer auch die Fehlschläge genannt werden. Oder haben Sie bei der Anwendung der Methoden immer Erfolg gehabt? (Oder habe ich es nur nicht mitbekommen?)“ Es lassen sich vielleicht Tendenzen nachzeichnen, die man anhand anderer Versuche in anderen Wissenschaftsbereichen mit eigenen Fragestellungen verfolgen müßte.
1. Es ist für den Hochschullehrer nützlich, das „Ankommen“ der einzelnen Sachverhalte in den Aussagen gespiegelt zu sehen. Ohne auf Prüfungen angewiesen zu sein, kann er schon früher Mißverständnisse erkennen und besonders spröde Sachverhalte sorgsamer gestalten (z. B. mit Tafel und Kreide, soweit in bestimmten Hörsälen vorhanden!).
2. Er sieht sich u. U. gewissen Trends gegenüber, die Erwartungen der Studenten betreffend, wie sie ihre Wissenschaft dargestellt wünschen: Nämlich in der gefährlichen Nähe einer in jeder Situation anwendbaren Rezeptur. Das mag in anderen Wissenschaftsbereichen anders sein, entspringt aber einem verständlichen menschlichen Bedürfnis nach Orientierungshilfen zur Strukturierung unübersichtlicher neuer Situationen — besonders im ersten Studiendrittel. Es wäre nun ebenso falsch, diese Wünsche völlig zu ignorieren wie ihnen nachzugeben.
3. Auf der gleichen Ebene liegt die Tendenz, einen Bereich einer Wissenschaft mit dem gesamten Fachgebiet zu identifizieren und damit ein auch der Öffentlichkeit verbreitetes Vorurteil in den Hörsaal hineinzutragen z. B. Tiefenpsychologie ist gleich Psychologie!
4. Es müßte beobachtet werden, ob sich eine Kontaktaufnahme seitens des Dozenten auf die Spontaneität der Anfangssemester — z. B. Bereitwilligkeit zu Diskussionen und Vorschlägen in den Übungen und Proseminaren günstig auswirkt.
Im ganzen gewann man den Eindruck, daß sich zwar viele Studenten resignierend nach dem „Dort-Die“- und „Hier-Wir“-Schema etabliert haben und recht unbeholfen die Spielregeln partnerschaftlicher Zusammenarbeit anwenden, daß sie aber rasch bereit sind, ihr — vielleicht häufig berechtigtes — Mißtrauen aufzugeben, wenn der Lehrende ernsthaft und nicht aus scheindemokratischer Effekthascherei an einem sachlichen Meinungsaustausch interessiert ist.
Wir sollten uns etwas mehr darum sorgen, was in dem Vakuum zwischen Lehrstuhl und Plenum geschieht; daß nicht etwa Fähigkeiten darin verkümmern, die wir in unserem öffentlichen Leben so dringend gegen jede Form von Radikalismus — ganz gleich ob in Gestalt von Ideologien oder Interessenvertretungen — benötigen: Fähigkeiten zur Gestaltung einer sachangemessenen und situationsgerechten Zusammenarbeit, die allen Beteiligten ein Höchstmaß an tendenzfreier Information gewährleistet.