Die Genossinnen und Genossen der Antifa-Kritik & Klassenkampf haben in ihrem Traktat Der kommende Aufprall an das Sozialistische Büro (SB) erinnert und damit eine Diskussion über dessen mögliche Neugründung angeregt.

Die anhaltende geschichtliche Aktualität des SB hat seinen letzten Grund darin, dass sein es kennzeichnender Arbeitsfeldansatz von ihm selbst nicht entfaltet wurde. Der Arbeitsfeldansatz ist keimhaft geblieben, und hat in dieser Form die Hülle des SB überlebt; er ist unabgegolten. Das SB als möglicher Organisator der Arbeitsfelder hat sich selbst als ein uneingelöstes Versprechen hinterlassen. Eine Kritik des SB muss daher zwischen dessen Wesen und Erscheinung unterscheiden.

 

Zweierlei Linkssozialismus

Dieser Widerspruch spiegelt sich innerhalb der Geschichte des SB in dem Konflikt zwischen Rudi Dutschke und Oskar Negt wider. Der wesentliche Widerspruch zwischen Dutschke und Negt liegt darin, ob die Konstituierung des SB aus dem überlieferten ›parteiischen Totalitätsbewusstsein‹ als historisch gewordene Voraussetzung des Arbeitsfeldansatzes anerkannt wird oder wie eine Art Verlegenheit geleugnet werden müsse, da beides eigentlich miteinander unvereinbar wäre. Inbegriff dieses Widerspruchs war die Parteifrage:

»Die revolutionäre Partei hat die Aufgabe«, schreibt Dutschke, »gerade die durch den kapitalistischen Produktionsprozeß unterdrückten Bedürfnisse und Triebe der unterdrückten Klasse in politisch-organisatorischer Gestalt sichtbar werden zu lassen. Wir erblicken im demokratischen Zentralismus die Widerspiegelung eines sozialdemokratischen Disziplin- und Demokratiebegriffs. Die Trennung der Bolschewiki von der internationalen Sozialdemokratie in den Tagen nach Beginn des ersten Weltkrieges war eine fundamentale politische, aber keine prinzipiell politisch organisatorische.« (Dutschke/Scharrer 1971: 5)

Das SB, das sich selbst der Aufgabe einer »Wiederaufnahme von Fragestellungen, die in der Periode von 1918 bis 1933 gegenwärtig waren« (SB 1975: 19) bewusst war, hätte diese Aufhebung der alten Sozialdemokratie »politisch organisatorisch« zu vollenden gehabt. Denn »es geht nicht mehr darum«, so Dutschke mit Blick auf die Bolschewiki, »das Rätesystem der direkten Demokratie als politisches Instrument der Machtergreifung der Partei für die Diktatur der Avantgarde zu gebrauchen, es geht vielmehr darum, die Trennung von ökonomischem und politischem Kampf, die Trennung von Partei und Räten, aufzuheben.« (Dutschke/Scharrer 1971: 5)

Aufgabe der Partei sei es, »die politische Unmittelbarkeit im Rahmen der gesellschaftlichen und geschichtlichen Totalität des Prozesses der Klassenkämpfe der Arbeiterklasse um ihre Befreiung theoretisch und praktisch zu verstehen. Allein darin liegt der Führungsanspruch des revolutionären Marxismus, hat sich die Führungsfähigkeit bzw. Unfähigkeit einer revolutionären Organisation zu zeigen.« (Dutschke 1975: 125) Nur in diesem strengen Sinne entsprechen sich bei Dutschke ›Partei‹ und ›Sozialistisches Büro‹, ›Arbeitsfelder‹ und ›Räte‹.

Dutschke dessen ungeachtet als »verkappten Leninisten« (Negt 2001: 342) zu diffamieren, wie Negt es tat, wird nur verständlich durch die Kenntnis von dessen eigenem Opportunismus. Negt leugnet, dass der sich in der ›Partei‹ manifestierende Unterschied zwischen Kommunist_innen und der Masse der Arbeiter_innen, durch eine andere Form proletarischer Organisation aufgehoben werden könne. In einer zeitgenössischen Kritik an den Thesen des SB durch Roten Zellen/AK München, der späteren Marxistischen Gruppe ist, wenn auch von einem traditionellen Standpunkt aus, der Negtsche Opportunismus treffend gekennzeichnet:

»Den Widerspruch aller kommunistischen Politik, daß Kommunisten auf eine Arbeiterklasse treffen, die das Ziel der proletarischen Revolution noch nicht zu dem ihren gemacht hat, also zunächst getrennt vom Proletariat darauf hinwirken müssen, daß es sich dieses Ziel setzt, ›löst‹ das SB so auf: Es verbietet organisierte Politik und Agitation, weil sie hinderlich für die Autonomie der Arbeiter ist und eröffnet dafür ein Büro, in dem die Arbeiter ganz selbsttätig ihre Erfahrung austauschen können, ihre eigenen, versteht sich. Die Funktion der Thesenmacher in diesem Büro besteht dann wohl darin, in Arbeitssitzungen den Arbeitern zu erklären, sie sollten sich ja von niemandem etwas erklären lassen. Das SB jedoch stellt wie Lenin die Existenz falschen Bewußtseins bei der Arbeiterklasse fest - aber nur um es in 74 Thesen gegen alle zu verteidigen, die es verändern wollen. Das SB spricht wiederholte Male aus, daß es auf den Erfahrungen der Arbeiter - und ihnen entspringt doch auch das falsche Bewußtsein - gegen ihre wissenschaftliche Erklärung beharrt, für die es offenbar die Arbeiter nicht für zuständig hält. Nicht um die Durchsetzung kommunistischer Politik, die ihre Zielsetzungen und Mittel aus dem wissenschaftlichen Sozialismus begründet, geht es dem SB, sondern um die Beseitigung all dessen, was Kommunisten irgendwelcher Art von der Arbeiterklasse, wie sie geht und steht, unterscheidet. Daß damit auch das SB überflüssig wird, ist ein Gedanke, den kein SB-ler wahrhaben will, und mit Recht: wer als einziges Ziel die Anpassung von vorhandenen politischen Anstrengungen an die aktuellen Interessen der Arbeiter verfolgt, der hat genug zu tun.« (AK Rote Zellen 1975)

Während Dutschke »einen der wesentlichen Gründe« für die Unterentwicklung der Klassenkämpfe darin sieht, dass »die antiautoritäre Sozialismus-Kommunismus-Tendenz noch keine konkrete Alternative zu den hemmenden, aber recht fest und sogar noch attraktiv dastehenden alten Organisationsformen« (Dutschke 2003: 120f.) hervorgebracht hat, es also auf die aktive und bewusste Artikulation eines objektiven geschichtlichen Bedürfnisses durch die Schaffung einer neuen Organisationsform ankäme, um ihm zum Durchbruch zu verhelfen, findet sich bei Negt die klassische opportunistische Denkfigur des ›Nachtrabs‹, die Partei könne immer nur das theoretisch und organisatorisch nachvollziehen, was die Massen bereits selbst an Interessen artikuliert haben.

In einer, wie Dutschke in seinen Tagebüchern vermerkt, »scharfen« (Dutschke 2003: 278) Diskussion in Hannover Ende der 1970er Jahre, die nach Negts Erinnerung sogar »zerbrochen« (Negt 2001: 156) sein soll, wird dies besonders deutlich. Dutschkes Standpunkt wird in diesem Gesprächsausschnitt von dem Kursbuchredakteur Harald Wieser wiedergegeben:

»Bevor«, so Negt zu Wieser, »die Massenloyalität gegenüber der Sozialdemokratie nicht spürbar zurückgegangen ist, ist die neue linke Partei nichts weiter als die, vielleicht etwas bessere und größere, Wiederholung von etwas, was wir in den bestehenden Kleinparteien bereits haben: eine Partei und Politik aus der Isolation heraus, eine Studenten- und Jugendpartei, in der sofort nach dem Gründungstag die Fraktionskämpfe ausbrechen würden.« Harald Wieser antwortet: »Das ist ein neuralgischer Punkt in der Parteifrage. Denn vielleicht stimmt das umgekehrte Argument: Die Massenloyalität zu den herrschenden Parteien ist gerade deshalb noch so unerschüttert, weil es eine attraktive linke Alternative, weil es die neue linke Partei noch nicht gibt.« Darauf entgegnet seinerseits Negt: »Das ist so plausibel wie falsch. Es ist deshalb falsch, weil es diese Alternativen doch gibt: die DKP, die kommunistischen Gruppen.« »Nein«, erwidert Wieser dann, »sie sind eben keine Alternativen; keine Alternativen für das Potential der Leute, von denen wir sprechen: die mit der SPD unzufrieden sind, aber gegenüber den autoritären Sozialismus Modellen von DKP und KPD mindestens ebenso große Vorbehalte haben.« (Negt/Wieser 1977: 186f.)

Dutschkes Linkssozialismus liegt politisch wie theoretisch jenseits von Sozialdemokratie und Leninismus, Negts ›Linkssozialismus‹ als deren einfache, formalistische Negation nur dazwischen. Er vertritt einen »verrückten Reformismus« (AK Rote Zellen 1975), so das Verdikt der AK Rote Zellen/München, als dessen parlamentarisches Pendant heute die Partei Die Linke angesehen werden könnte.

Oskar Negtist aber zugleich bis heute der einzige Theoretiker des Arbeitsfeldansatzes. Die Theorie dieses Ansatzes liegt also bisher selbst noch in einer nur opportunistischen Form vor. Rudi Dutschke hat offenbar – zumindest sind die betreffenden Dokumente nicht mehr auffindbar – keine zusammenhängende Kritik an Negts opportunistischer Theorie hinterlassen. Dennoch lassen sich bei ihm an jedem strategischen Wendepunkt in der Geschichte des SB die entscheidenden Hauptlinien einer solchen Kritik finden.

Zu der nachfolgenden Darstellung des Arbeitsfeldansatzes entlang dieser Dutschkeschen Leitlinien fühlen wir uns umso mehr berechtigt, als Oskar Negt selbst im Juni 1976 in einem Brief an Dutschke schrieb: »Wir müssen versuchen, die von Dir aufgeworfene Dialektik von Räteorganisation und Partei noch tiefer zu begreifen und Lösungen anzubieten.« (G. Dutschke 1996: 372)

 

Die Monadologie des 'Arbeitsfeldansatzes'

Der Arbeitsfeldansatz des SB kann am deutlichsten in den Begriffen der Leibnizschen Monadologie dargestellt werden.

Den Grundgedanken formulierteOskar Negt so:

»Die verschiedenen Arbeitsfelder sind, was die Erfahrungsbedingungen für die einzelnen Individuen und was die konkreten Arbeitsprozesse anbetrifft, Stücke der gesellschaftlichen Totalität, die man nicht von außen in sie hineintragen muss. In jedem Arbeitsfeld reproduziert sich also die gesellschaftliche Totalität, und es ist von der Sache her unmöglich, die einzelnen Arbeitsfelder ohne willkürliche Abstraktion voneinander zu isolieren und auf die Vertretung rein beruflicher Interessen zu beschränken.« (Negt 1976a: 455f.)

Weiter schreibt er, dass, da der »inhaltliche Zusammenhang der gesellschaftlichen Produktionsprozesse«, die Totalität, »alltäglich vorhanden« sei, sie daher »nicht erst durch eine übergreifende Organisation hergestellt werden« müsse; in einer neuen »sozialistischen Strategie« wird der gegebene gesellschaftliche Zusammenhang vielmehr an jedem Punkt »politisch aktualisiert« (Negt 1976a: 456). 

Arbeitsfeld ist jedwedes Produktions- und Reproduktionsverhältnis innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, tausendfältig verbunden mit deren arbeitsteiligem Zusammenhang.

Das Verhältnis der Arbeitsfelder zum »inhaltlichen Zusammenhang der gesellschaftlichen Produktionsprozesse« entspricht genau der Bestimmung des Verhältnisses der Leibnizschen Monaden zur Totalität. Jede Monade ist zugleich selbst Totalität wie auch selbsttätige Spiegelung der Gesamtheit der anderen Monaden. Die Monaden untereinander unterscheiden sich durch den Grad der Deutlichkeit, der Trennschärfe, mit der sie die Totalität widerspiegeln, so dass Leibniz von einer »unendlichen Zahl von Abstufungen in den Monaden« spricht, »von denen die einen die anderen mehr oder weniger beherrschen.« (Leibniz 1884: §4)

Dieses graduelle Verhältnis fasst Leibniz als eines zwischen ›Zentralmonade‹ und ›Masse‹:

»Es gibt überall einfache Substanzen, die tatsächlich durch eigene Handlungen voneinander geschieden sind und die dauernd ihre Beziehungen zueinander ändern. Und jede einfache Substanz oder unterschiedene Monade, die das Zentrum einer zusammengesetzten Substanz und das Prinzip seiner Einzigkeit bildet, wird von einer Masse umgeben, die aus einer unendlichen Zahl anderer Monaden zusammengesetzt ist, welche den eigentlichen Körper dieser Zentralmonade bilden, gemäß dessen Erregung sie gleichsam als eine Art Mittelpunkt die Dinge, die außer ihr sind, darstellt.« (Leibniz 1884: § 3)

Diese Verhältnisbestimmungen erinnern an die Sätze in den Grundrissen, mit denen Marx das Verhältnis der verschiedenen »zusammengesetzten« Produktionsverhältnisse zur Einheit der Produktionsweise veranschaulicht:

 »In allen Gesellschaftsformen ist es eine bestimmte Produktion, die allen übrigen, und deren Verhältnisse daher auch allen übrigen, Rang und Einfluß anweist. Es ist eine allgemeine Beleuchtung, worein alle übrigen Farben getaucht sind und welche sie in ihrer Besonderheit modifiziert. Es ist ein besondrer Äther, der das spezifische Gewicht alles ihm hervorstechenden Daseins bestimmt.« (Marx 1953: 27)

Doch was vorläufig als »mehr oder weniger beherrschen« bezeichnet wurde, muss präziser als ein dialektisches Verhältnis von Aktivität und Passivität bezeichnet werden, welches Leibniz eben als ein selbsttätiges Widerspiegeln fasst: »was sich in bestimmter Hinsicht als aktiv erweist«, nämlich die Zentralmonade, sei, »von einem anderen Gesichtspunkt aus passiv: Es ist aktiv insofern, als das, was man deutlich in ihm erkennt, den Grund dafür abgibt, was sich in einem anderen«, der Masse, »ereignet; und es ist insofern passiv, als der Grund dessen, was sich in ihm ereignet, sich in dem findet, was sich deutlich in einem anderen erkennen lässt.« (Leibniz 1998: §52) Die Aktivität einer Monade ist darum nicht nur relativ in Hinblick auf eine andere, deutlichere und tiefere Monade, der gegenüber sie ihrerseits »beherrscht« ist; auch die Aktivität selbst, da sie die »Erregung« dessen ausdrückt, der »beherrscht« wird, enthält somit ein Moment der Passivität.

Die Selbsttätigkeit jeder Monade ist der letzte Grund dafür, »was sich ereignet«, sie ist zugleich der Durchgangs- oder Umschlagspunkt der Totalität, die zum einen die Impression jeder Monade ist und die zum anderen aber auch durch die Monaden, in graduell unterschiedlicher Tiefe, artikuliert wird.

Somit ist Selbstreflexion, die Widerspiegelung des Grundes, zugleich eine Totalitätserkenntnis, die Erkenntnis des »Prinzips« der Totalität. Weshalb Leibniz an diesem Punkt noch einmal die aktiven Monaden untereinander danach unterscheidet, dass die einen ›schlafend‹ wären, sich also nicht bewusst wahrnehmen, während die anderen ›erwacht‹ seien, also ihre Wahrnehmung wahrnehmen würden, oder bewusst wären. (vgl. Leibniz 1998: §20ff.)

Nach diesem Verstande wäre das SB im Verhältnis zu den Arbeitsfeldern eine Zentralmonade, tendenziell der vollkommene Spiegel des ›gesellschaftlichen Gesamtarbeiters‹.

Seine »einfache Substanz«, die sich in ihm vereinigenden Individuen, verwirklichen diese, vorerst nur mögliche, Einheit des Gesamtarbeiters im SB, auf Grundlage eines gemeinsamen parteiischen Totalitäts- oder Klassenbewusstseins, um dann in den Arbeitsfeldern die ›Erregung‹ der sie umgebenden Masse schlafender Monaden im Spiegel der Totalität darzustellen, sie zu artikulieren, also in dem jeweiligen Arbeitsfeld selbst wieder als Zentralmonade zu fungieren.

Die Selbsttätigkeit der Massenindividuen ist der letzte Grund dafür, »was sich ereignet«. Die Reflexion ihrer sie darin antreibenden unmittelbaren Interessen im Spiegel der Totalität, also der möglichen Einheit des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters, ist im Wesentlichen die Selbstreflexion des Forminhalts dieser Interessen. Die dadurch mögliche Unterscheidung eines Bedürfnisinhalts von seiner kapitalistischen Formierung zum ›Interesse‹ ist selbst schon die Artikulation eines neuen, radikalen Bedürfnisses, dessen Befriedigung nur in der organisierten Selbsttätigkeit neue, dem Bedürfnis entsprechende Formen annehmen kann. Dieses Bewusstsein, Bedürfnisse und die sie vermittelnden Gefühle umfassende Bildungsprozesse der Massenindividuen zu »universellen Individuen« (Marx 1953: 440), wie Marx es nannte, ist die innerste Dynamik des SB und seiner Arbeitsfelder.

»Die Tätigkeit in den Arbeitsfeldern und die in den Organisationskernen« ist, so Negt, »personell identisch« (Negt 1976a: 459). Das ist die nicht äußerlich herangetragene und nicht repräsentative ›politische Aktualisierung‹ jedes Punktes. Der Zusammenhang zur Totalität ist unbewusst und darum nur potentiell, der Akt seiner Bewusstwerdung verändert zugleich die Form der Totalität. Indem das Einzelne sich spontan, d.h. hier von sich aus, selbsttätig auf das Allgemeine, die Gesamtheit der anderen Monaden bezieht, ist das so umgeschaffene Allgemeine nicht mehr, wie noch im Kapitalismus, »die Allgemeinheit der selbstsüchtigen Interessen« (Marx 1953: 156), wie Marx schreibt, sondern ein »konkret Allgemeines«, gebildet aus dem Bedürfnis der Einzelnen nach Gesellschaft.

Im Gegensatz zu Leibniz aber, der mit seiner Monadologie die »prästabilierte Harmonie« der besten aller denkbaren Welten beschreiben wollte, ist die Monadenlehre in ihrer Anwendung auf das SB und dessen Arbeitsfelder ein Begriff für die Umwälzung einer Totalität, nämlich jener der bürgerlichen Gesellschaft, in eine andere, die wirklich kommunistische. Darum schreibt Negt auch: »Es gibt keine ein für allemal festgelegte Hierarchie der Gewichtung der einzelnen Arbeitsfelder.« (Negt 1976a: 455)

Und bereits in den Ansatzpunkten sozialistischer Politik in der Bundesrepublik der Arbeitsgruppe Sozialistisches Büro, also noch vor der eigentlichen Gründung des SB heißt es hierzu:

»Der Kampf um demokratische sozialistische Organisationsformen der gesellschaftlichen Arbeits- und Lebensverhältnisse, der Kampf um Freiheitsräume und Machtpositionen, um ›Gegenmacht‹ im Rahmen des kapitalistischen Systems, kann auf Grund der Kräfteverhältnisse nicht überall gleichmäßig ansetzen, sondern muß auf auszuwählende Felder konzentriert werden. Kriterien für die Auswahl sind deren strategische Bedeutung und die Chance, wirksam werden zu können.« (SB 1971: 19f.)

Die »Hierarchie der Gewichtung der einzelnen Arbeitsfelder« unterliegt somit den sich im Transformationsprozess verschiebenden »Kräfteverhältnissen«. »Strategisch wichtige Felder« aber seien, gemäß dem »Rang und Einfluß«, den ihnen das Kapitalverhältnis anweist: »Produktion«, »Erziehung« und »Massenmedien«. (ebd.)

 

Transformation einer Produktionsweise in eine andere

Die Besonderheit des monadologischen Arbeitsfeldansatzes gegenüber den anderen proletarischen Organisationsformen liegt darin, kein Mittel zu sein, einen außer ihm liegenden Zweck zu erreichen, etwa traditionell die Eroberung der Staatsmacht; er ist eine Prozessgestalt. Der prozessual, wenn auch nicht linear wachsende, sich aber innerlich ausdifferenzierende ›eigentliche Körper‹ des SB durchdringt die Totalität der bürgerlichen Gesellschaft und wälzt sie als »Organisator eines Produktionszusammenhangs« (Negt 1976b: 310) um. In den Ansatzpunkten wird das in den Worten erläutert:

»Eine sozialistische Gesellschaft geht nicht mechanisch aus der Beseitigung kapitalistischer Eigentumsverhältnisse hervor, sondern die sozialistische Bewegung muss neue sozialistische gesellschaftliche Formen und individuelle Verhaltensweisen entwickeln und einüben, die Emanzipation von Herrschaft und gesellschaftlicher Demokratie ermöglichen. Eine Gesellschaft mit qualitativ neuen sozialen Beziehungen und neuen gesellschaftlichen Strukturen kann nicht in einem einmaligen revolutionären Akt entstehen« (SB 1971: 18ff).

So müssten bereits im »Verlauf« der gesellschaftlichen Transformation »partiell und der Tendenz nach Organisationsformen und Institutionen gesellschaftlicher Selbstbestimmung« von »den Massen der Lohnabhängigen bewußt« selbst »geschaffen und gegen konterrevolutionäre Anschläge verteidigt werden«.  Anstatt der Staatsmacht gelte es erstrangig »sozioökonomische Machtpositionen« zu erobern und »wo möglich Sozialisierung von Teilbereichen der gesellschaftlichen Produktions- und Lebensverhältnisse« zu erreichen, »und zwar nicht nur von Bereichen, die infrastrukturelle Voraussetzungen der Kapitalverwertung sind, sondern auch und insbesondere von solchen Zitadellen ökonomischer Macht, die sich dynamisch entwickeln« (ebd.).

Diese Transformation, als Einheit von Sozialisierungs- und Bildungsprozess, schafft, logisch bruchlos, die Bedingungen für die ebenfalls monadologisch organisierte wirklich kommunistische Produktionsweise, in dem sie das »Teilindividuum, den bloßen Träger einer gesellschaftlichen Detailfunktion, durch das total entwickelte Individuum« ersetzt, »für welches verschiedene gesellschaftliche Aufgaben einander ablösende Betätigungsweisen sind« (MEW 23: 512).

Die durch die Arbeitsteilung unter den Individuen, also durch Vereinseitigung in der Ausbildung von derer Anlagen hervorgebrachten menschlichen Produktivkräfte, werden sich von eben diesen Individuen wieder angeeignet, um so die Anlagen ihrer Individualität allseitig zu entwickeln. Die Tätigkeit dieser dann ›universellen Individuen‹, in deren »Kopf«, so Marx, »das akkumulierte Wissen der Gesellschaft existiert« (Marx 1953: 600), wird dann als der »große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums« (Marx 1953: 593) erscheinen, denn mit der »allseitigen Entwicklung der Individuen« werden »auch ihre Produktivkräfte gewachsen« sein und »alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen.« (MEW 19: 21)

Voraussetzung dafür ist die Verwissenschaftlichung der Produktion und die Revolutionierung der Wissenschaft.

Denn hier geht es um den »verteufelten Unterschied«, »sich selbst zu allem« zu »verwenden«, oder »zu allem verwandt zu werden« (Marx 1953: 25). Nur eine Wissenschaft, die auch ihrem Forminhalt nach den Zweck hat, nicht abstrakte Gebrauchswerte für deren Verwertbarkeit durch die kapitalistische Form der Technologie zu produzieren, sondern die Individuen politisch zu ermündigen und allseitig zu bilden, kann im Kommunismus nach Marxschem Sinn als »allgemeine Arbeit« gelten. Aufgabe im Arbeitsfeld von Student_innen und Intellektuellen wäre diese Wissenschaftskritik und deren praktische Organisation, die Darstellung der Totalität bürgerlicher Gesellschaft ›ad hominem‹ als eines Praxiszusammenhangs (MEW 1: 385). Diese »theoretische Aktion« (Korsch 1966: 31) wäre als die Herstellung der Kompatibilität der Arbeitsfelder im Totalitätsbewusstsein eine praktische Voraussetzung für die Neugründung des SB, damit, wie Dutschke schrieb, die »zentrale Verallgemeinerung der Erfahrung die Ungleichzeitigkeit nicht unvermeidlicherweise mißachtet.« (Dutschke 1981: 115)

 

Hans-Jürgen-Krahl-Institut

 

*.lit

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Dutschke, Rudi/Scharrer, Manfred (1971): Kritik der KPD/AO Politikon Nr. 36, April/Mai 1971, S. 3-6 (laut Manfred Scharrer, Auf der Suche nach der revolutionären Arbeiterpartei. Eine Momentaufnahme, in: Ästhetik und Kommunikation, Nr 140/141, 2008, S. 53, stammt der bei uns zitierte allgemeine Teil dieses Textes von Rudi Dutschke.).

Dutschke, Rudi: Über die Schwierigkeiten einer kritischen Solidarität, in: Holger der Kampf geht weiter, Dokumente und Diskussionsbeiträge zum Konzept Stadtguerilla, Gaiganz 1975, S. 119-127.

Dutschke, Rudi (1981): Aufrecht gehen. Eine fragmentarische Autobiografie, Berlin 1981.

Dutschke, Rudi (2003): Jeder hat sein Leben ganz zu leben. Die Tagebücher 1963-1979, Köln 2003.

Dutschke, Gretchen (1996): Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben. Eine Biografie, Köln 1996.

Korsch, Karl (1966): Marxismus und Philosophie, Frankfurt a.M. 1966.

Marx, Karl (1953:) Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin (Ost) 1953.

Marx, Karl (1962): Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, Berlin (Ost) 1962, S. 378-391.

Marx, Karl (1962): Kritik des Gothaer Programms, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 19, Berlin (Ost) 1962, S. 11-32.

Marx, Karl (1962): Das Kapital, Bd. 1, in: Karl Marx/Friedrich Engels Werke, Bd. 23, Berlin (Ost) 1962.

Leibniz, Gottfried Wilhelm (1884): Die in der Vernunft begründeten Prinzipien der Natur und der Gnade, in: Kleinere Philosophische Schriften, Hrsg. von R. Habs, Leipzig 1884 (zitiert nach http://gutenberg.spiegel.de/buch/kleinere-philosophische-schriften-6936/15).

Leibniz, Gottfried Wilhelm (1998: Monadologie, Hrsg. und eingeleitet von Hartmut Hecht, Stuttgart 1998.

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Sozialistisches Büro (1971): Ansatzpunkte sozialistischer Politik in der Bundesrepublik. Thesen der Arbeitsgruppe Sozialistisches Büro, Offenbach 1971.

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