In den letzten Jahren nehmen wir hoffnungsvoll eine neue Suchbewegung innerhalb der radikalen Linken wahr. Die Frage nach einer möglichen tatsächlichen Alternative zum Kapitalismus wird wieder stärker diskutiert – oder die Diskussion darüber zumindest stärker eingefordert – ebenso wie die Diskussion über die Frage, mit welchen konkreten Mitteln und Methoden eine tatsächliche Überwindung des kapitalistischen Systems denkbar sein könnte. Diese Suchbewegung zeigt sich u.a. in den zahlreichen Strategiepapieren, die in den letzten Jahren veröffentlicht wurden. Wir denken, dass es notwendig ist, die Diskussion über aktuelle Perspektiven linksradikaler Politik bundesweit und gruppenübergreifend zu intensivieren und ernsthafte, konkrete Schritte für eine veränderte Praxis daraus abzuleiten. Eines der veröffentlichten Strategiepapiere ist Der kommende Aufprall der Antifa Kritik & Klassenkampf (AKK), in dem neben einer ausführlichen Analyse der Krisenentwicklung und der aktuellen Verhältnisse auch Rückschlüsse für eine linksradikale Praxis gezogen werden. Besonders gefallen hat uns an dem Text der Bezug auf den Doppelcharakter von Bedürfnissen im kapitalistischen System ebenso wie die Bedeutung, die dementsprechend dem Reproduktionsbereich und den darin stattfindenden feministischen antikapitalistischen Kämpfen zugeschrieben wird.

Wir möchten dem Text dennoch einige Aspekte hinzufügen, vor allem in Hinblick auf die praktischen Rückschlüsse, die sich aus der getätigten Analyse ergeben. Die von der AKK geschilderten drei Ebenen greifen unserer Meinung nach zu kurz, insbesondere in Bezug auf die Frage der Organisierung und gesellschaftlichen Praxis. Zudem möchten wir den Aspekt des Internationalismus als strategische Notwendigkeit betonen. Die folgenden Gedanken basieren auf dem von uns veröffentlichten Thesenpapier zur grundlegenden Neuausrichtung linksradikaler Politik.

 

Revolutionäre Politik heißt, um das Potential der Gesellschaft zu wissen

Wir teilen die Ansicht der AKK, dass es einer linken Politik bedarf, die sich aus ihrer Zurückgezogenheit und dem Zurückgedrängtsein herausarbeitet. Die wichtigste Grundlage für eine veränderte Praxis sehen wir darin, die Kluft zwischen radikaler Linker und Gesellschaft zu überwinden. Denn die tatsächliche Überwindung kapitalistischer, patriarchaler und staatlicher Strukturen kann weder für die Gesellschaft erkämpft noch ohne oder gegen sie durchgesetzt werden. Vielmehr ist Revolution nur als kontinuierlicher Prozess zu verstehen, der von breiten Teilen der Bevölkerung getragen und erkämpft wird. Andernfalls verkommt Revolution zu einem Herrschafts- und Zwangsprojekt von oben und linksradikale Politik zu Elitarismus, weil der Kampf für die Gesellschaft den Kampf in und mit ihr ersetzt. Um das grundlegende Potential für emanzipative Veränderungen auch in der bundesdeutschen Gesellschaft zu erkennen, ist es wichtig, dass wir zwischen Strukturen und Individuen und zwischen Staat und Gesellschaft unterscheiden und uns selbst als Teil der gespaltenen und widersprüchlichen Gesellschaft begreifen. Das bedeutet, einen radikalen Bruch mit den selbstbezogenen, identitären und subkulturell geprägten Aspekten bisheriger Szenepolitik zu vollziehen.

Die linksradikale ›Szene‹ hat für viele, die sich ihr zugehörig fühlen, vor allem eine soziale und emotionale Bedeutung. Der subjektive Vorteil des Szenelebens besteht erst einmal unabhängig von ihrer gesellschaftspolitischen Relevanz. Dadurch drängt sich die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung nicht unmittelbar auf, denn das Szenedasein lässt sich als Rückzug in eine gesellschaftliche Nischenexistenz leben, als eine Art Aussteiger_innentum. Damit wird der Erhalt der Subkultur zum Wert an sich. Das Heraustreten aus den gewohnten Kreisen und der Geborgenheit einer uns ständig bestätigenden Kultur ist bei einigen mit Unsicherheiten und Ängsten verbunden. Wir denken, es bedarf eines bewussten, gemeinsamen Lernprozesses, um sich die Fähigkeit (wieder)anzueignen bzw. weiter zu entwickeln, andersdenkenden Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, Widersprüche auszuhalten und eigene Analysen und Standpunkte zu vertreten und verständlich zu vermitteln. Das erfordert sowohl die kollektive Auseinandersetzung mit eigenen Ängsten und Unsicherheiten, die gemeinschaftliche Aneignung von Fertigkeiten und Kenntnissen, als auch die Diskussion der Frage, wie revolutionäre Inhalte so vermittelt werden können, dass sie als relevant und realistisch betrachtet und empfunden werden.

 

Neuausrichtung linksradikaler Praxis

Dem Rückzug in die Bequemlichkeit der eigenen Szene entspricht eine politische Praxis, die vorwiegend auf abstrakter politischer Ebene ansetzt und sich in einzelnen, gespalteten Teilbereichs- und Abwehrkämpfen zerreibt, Einpunktbewegungen und Gipfelmobilisierungen favorisiert und Kampagnenpolitik als zentrale Methode einsetzt. Wir sind der Meinung, dass es einer grundsätzlichen, tiefgreifenden Veränderung und Neuausrichtung linksradikaler Politik bedarf. In der Bundesrepublik ist der bürgerliche Staat als vermeintlich neutraler Verwaltungsstaat tief im Bewusstsein der Menschen und den Strukturen der Gesellschaft verwurzelt. Er durchdringt fast alle Bereiche und regelt fast alle zwischenmenschlichen Beziehungen. Entsprechend groß ist die Obrigkeitsgläubigkeit, während es kaum Vorstellungen davon gibt, wie sich eine Gesellschaft ohne zentrale staatliche Kontrolle und Regulierung selbst organisieren kann. Eine tatsächliche Veränderung von gesellschaftlichen Strukturen und damit die Überwindung des kapitalistischen Systems, des Prinzips der Klassenherrschaft und des Staates kann nur dann stattfinden, wenn Menschen überhaupt erst einmal wieder Erfahrung mit Selbstorganisation und darin mit Selbstwirksamkeit und Solidarität machen.

Insofern geht uns die im kommenden Aufprall beschriebene Strategie der Intervention in und Vernetzung von bestehenden sozialen Kämpfen und politischen Gruppen nicht weit genug. Die Logik des Kapitals hat alle Bereiche der Gesellschaft eingenommen. Als Konsequenz haben sich Faktoren wie Konkurrenz, Leistungs- und Arbeitszwang, Individualisierung und Prekarität etabliert, die zur Spaltung und Atomisierung der Gesellschaft führten und führen. Unter solchen Bedingungen werden nicht nur gemeinsame Probleme als individuelle wahrgenommen und ihnen dementsprechend individuell begegnet. Jede und jeder ist dem kapitalistischen System infolge der Durchsetzung des Neoliberalismus, nach der Zerstörung kollektiver sozialer Strukturen, auch tatsächlich einzeln und allein ausgesetzt, sei es im Betrieb, vor dem Amt, etc. Es ist kein Wunder, dass unter diesen prekären Bedingungen Konkurrenz den Platz von Solidarität einnimmt und Individualisierung den Platz von Gemeinschaftlichkeit. Auch werden rassistische und nationalistische Spaltungstendenzen gestärkt. Die gesellschaftlichen Bedingungen für spontane emanzipatorische Organisierungsprozesse werden dadurch erheblich erschwert. Insofern reicht es unserer Ansicht nach nicht aus, eine Plattform ins Leben zu rufen, auf der sich bestehende soziale Kämpfe und politische Gruppen vernetzen, weil sie so ohne soziale Basis im Alltagsleben der Menschen und dadurch hohl bleibt. Wir halten es für notwendig, weit vorher zu beginnen und überhaupt erst wieder Räume und Strukturen aufzubauen und zu stärken, in denen wir als Gesellschaft lernen, wie wir unser Leben ohne Vermittlung des Staates selbst organisieren und Probleme im Alltag selbständig miteinander aushandeln können. Wir müssen Orte schaffen, an denen die herrschenden unterdrückerischen Werte, Normen, Denkweisen und Strukturen infrage gestellt und verändert werden können. Orte, an denen neue Erfahrungen möglich sind. Orte, an denen sich emanzipative Werte und Denkweisen herausbilden können. Den Aufbau von selbstorganisierten Strukturen halten wir letztlich überall dort für sinnvoll und notwendig, wo sich unser Alltag vollzieht, um diesen Alltag zunehmend dem staatlichen Zugriff zu entreißen und in das Feld gesellschaftlicher Selbstbestimmung zu überführen. Offenkundige Felder sind Erwerbstätigkeit (Betrieb, Ämter), Wohnen (Haus, Straße, Stadtteil), Reproduktion (insbesondere Kinder und Pflege) sowie Lebensgrundlagen (solidarische Netzwerke, Lebensmittelproduktion, Gesundheit) etc. Da viele Lohnabhängige vor allem im prekären Niedriglohnbereich keine festen Arbeitsplätze mehr haben, sondern häufig den Betrieb wechseln und dadurch vereinzelt sind, werden die Bedingungen für eine kontinuierliche Organisierung und Entwicklung von Kämpfen auf Grundlage des Arbeitsalltags zunehmend schwieriger. Vor diesem Hintergrund spielt der Aufbau von selbstorganisierten Strukturen in Stadtteilen eine besondere Rolle. Diese können dann Ausgangspunkt von Kämpfen auch in anderen Bereichen werden.

 

Revolutionäre Kultur statt neoliberale Werte

Die Fokussierung im Kommenden Aufprall auf Arbeitskämpfe und soziale Revolution vernachlässigt unserer Ansicht nach wesentliche Aspekte einer grundlegenden gesellschaftlichen Veränderung. Wir begreifen Revolution nicht nur als eine Veränderung der wirtschaftlichen und politischen Strukturen, sondern auch als radikale Veränderung des individuellen und gesellschaftlichen Seins und damit der Art und Weise, wie wir unsere Beziehungen gestalten, miteinander kommunizieren und uns zueinander verhalten. Kapitalismus hat nicht nur Strukturen der Ausbeutung geschaffen, sondern sich auch auf allen Ebenen in unsere Köpfe und Herzen eingegraben. Revolution als kontinuierlicher Prozess bedeutet insofern die ganzheitliche Befreiung von den Strukturen, dem Denken und Fühlen des kapitalistischen, patriarchalen und rassistischen Systems. Eine revolutionäre Kultur entsteht dabei nicht durch die bloße Abwesenheit von falschen und unterdrückerischen Denk- und Verhaltensweisen (»wir sind antikapitalistisch, antirassistisch, antisexistisch etc.«). Vielmehr müssen die entsprechenden Alternativen aktiv geschaffen und ins Leben gerufen werden. Das heißt: Die Veränderung und Entwicklung unserer eigenen Persönlichkeit sowie die konkrete Verwirklichung emanzipatorischer und solidarischer Umgangsweisen in unseren Strukturen müssen fester Bestandteil unserer politischen Arbeit werden. Denn revolutionäre Politik beginnt als allererstes bei uns selbst. Ob wir eine gesellschaftliche Kraft werden, hängt unserer Ansicht nach auch davon ab, inwiefern es uns im Hier und Jetzt bereits gelingt, eine andere Kultur des Alltagslebens zu schaffen und inwiefern sich Menschen in unseren Strukturen gesehen, willkommen geheißen und einbezogen fühlen. Das Erleben solch einer anderen Kultur ist das wirksamste Mittel, um dem Glauben an die Unveränderlichkeit der Dinge entgegenzutreten und Menschen das Wissen um die Machbarkeit wirksamen, selbstbestimmten und gemeinschaftlichen Handelns zu vermitteln.

 

Eine revolutionäre Perspektive bedarf in der BRD einer radikalen Kritik des Staates, der Sozialdemokratie und ihrer Institutionen

Die fehlende Erfahrung und das fehlende Selbstbewusstsein in und mit sozialen Kämpfen führt dazu, dass sich linksradikale Gruppen auf dem Weg raus aus der Subkultur häufig den vermeintlichen Repräsentant_innen der Gesellschaft wie Gewerkschaften, Parteien oder staatlichen Stadtteilstrukturen zuwenden und sich auf deren vermeintliche Erfahrung und Mobilisierungskraft berufen. Diese Bündnisse werden dabei häufig als Ersatz für eine echte Organisierung und einen Kampf von unten angesehen. Die Überzeugung, Gesellschaftsveränderung könne über Teilhabe an den Institutionen des parlamentarisch organisierten Staates und der institutionalisierten Zivilgesellschaft erzielt werden, reicht weit in linksradikale politische Ansätze hinein. Als Ursachen hierfür sehen wir u.a. ein tiefes Misstrauen gegenüber der Bevölkerung und ihrem Potential zu Emanzipation und Selbstbestimmung sowie die der Bewegungsstarre folgende Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit. Wir erachten eine radikale Kritik am Staat ebenso wie am Konzept der Zivilgesellschaft und an sozialdemokratischen Institutionen als grundlegend für eine revolutionäre Praxis in der BRD. Reformistische und linksliberale Politikansätze sind unserer Meinung nach eines der größten Hindernisse und Gefahren für die Entwicklung und das Fortbestehen von revolutionären Bewegungen. Allein die Analyse der Rolle der Sozialdemokratie in der Bundesrepublik seit den 1900er Jahren reicht aus, um diese Einschätzung zu unterstreichen. Die Geschichte zeigt, dass die Sozialdemokratie sowohl institutionell als auch ideologisch zur Spaltung der Arbeiter_innenklasse sowie der Spaltung der Linken diente. Ähnlich lässt sich die Geschichte der reformistischen Gewerkschaften in der BRD bis heute auswerten. Aber auch eine Analyse des Scheiterns der sozialen Aufstände an verschiedenen Orten weltweit zeigt die spalterische und konterrevolutionäre Rolle, die reformistische Kräfte spielten (innerhalb der Anti-Austeritätsbewegung in Griechenland, 15M in Spanien, die Aufstände des Arabischen Frühlings, die Grüne Bewegung im Iran etc.). Insofern kritisieren wir den Ansatz einiger linksradikaler Gruppen, die immer noch eine Zusammenarbeit mit reformistischen Gewerkschaften, NGOs, Parteien etc. als strategisch (und nicht taktisch) sinnvoll betonen und der Arbeit an der Basis der Gesellschaft vorziehen. Es liegt auf der Hand, dass aus Bündnissen mit Funktionär_innen von Institutionen weder die emanzipatorische Kultur noch die Erfahrung mit basisbestimmten demokratischen Strukturen von unten hervorgehen, die eine revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft von unten ermöglichen. Bestenfalls mündet eine solche Politik in einem sozialdemokratischen Parlamentarismusmodell. Die selbstbestimmte Gestaltung des Alltags und gesellschaftliche Selbstorganisation aber entstehen aus den kollektiven Erfahrungen einer gemeinsam und unmittelbar von unten gestalteten Bewegung. Die zentrale Aufgabe linksradikaler Politik besteht vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis unseres Erachtens darin, selbstorganisierte Strukturen an der Basis der Gesellschaft zu schaffen und zu stärken, die im Alltag der Menschen verankert sind, über einzelne Kämpfe hinausreichen und auf das verweisen, was wir in Zukunft anstreben.

 

Die Basis einer gesellschaftlichen Kraft ist die Organisierung

In einigen Diskussionen mit Genoss_innen über Perspektiven linksradikaler Politik nehmen wir die Tendenz wahr, dass sich die Politisierung des eigenen Lebens und Entwicklung einer gesellschaftlichen Praxis in einer Politik der ersten Person erschöpft. Dabei wird unserer Ansicht nach die Bedeutung von Organisierung vernachlässigt, mit der Gefahr, dass wir es am Ende mit lauter kleinteiligen, unverbundenen lokalen Praxen und Initiativen zu tun haben, die sich leicht vom System schlucken lassen. Wir sehen in Organisierung eine zentrale Notwendigkeit revolutionärer Politik, die sich sowohl aus der Analyse der Auswirkungen der kapitalistischen Verhältnisse als auch aus der Analyse historischer und gegenwärtiger revolutionärer Erhebungen, ihren Entstehungsbedingungen sowie den Gründen für ihr Scheitern ergibt.

Die Geschichte zeigt, dass revolutionären Erhebungen ebenso wie radikalen Kämpfen häufig jahrzehntelange, kontinuierliche, geduldige, organisierte Arbeit vorausgegangen ist. Sehr anschaulich wird dies z.B. in der russischen Revolution von 1905, der spanischen Revolution von 1936 oder den aktuellen Entwicklungen in Rojava. Dies macht deutlich, dass organisierte revolutionäre Strukturen zur Entstehung einer revolutionären Bewegung einen wichtigen Beitrag leisten. In unrevolutionären Zeiten sehen wir die Aufgaben vor allem darin, die Ideen und Methoden der Selbstorganisierung von unten, radikale revolutionäre Vorstellungen und Analysen in der Gesellschaft zu verbreiten, zum Aufbau selbstorganisierter Strukturen in allen Lebensbereichen aktiv beizutragen und aktuelle Kämpfe zu unterstützen, in denen für die Durchsetzung konkreter Verbesserungen gekämpft wird, sowie Auseinandersetzungen und Kämpfe anzustoßen und zu radikalisieren. Zudem ist es wichtig, soziale und solidarische Strukturen im Sinne einer widerständigen Infrastruktur aufzubauen. Diese sind nicht nur für einen dauerhaften Kampf unabdingbar, sondern auch während revolutionärer Prozesse oftmals entscheidend dafür, dass Aufstandsbewegungen trotz der Angriffe des Systems weiter bestehen können und eine realistische Aussicht haben, eine Doppelmachtsituation zwischen Staat und selbstorganisierter Gesellschaft zu ihren Gunsten zu entscheiden.

Auch die Analyse historischer und gegenwärtiger Aufstände zeigt, dass das Vorhandensein von organisierten Strukturen für den Verlauf von Aufständen von elementarer Wichtigkeit ist. Bewegungen scheitern in sozialen Kämpfen ebenso wie in revolutionären Situationen, wenn sie nicht über eigene ständige organisierte Strukturen verfügen. Zwar sind die Spontaneität der Massen in Kombination mit den materiellen Bedingungen maßgeblich für das Eintreten revolutionärer Situationen, der Grad der Organisiertheit ist jedoch wichtig für deren Erfolg und Fortbestehen. Andernfalls überlassen wir den Erfolg spontaner Erhebungen völlig ihrer spontanen Durchsetzungskraft gegenüber den organisiert vorgehenden Angriffen des Systems. Die für viele überraschend ausgebrochenen Erhebungen in den letzten Jahren, wie die Grüne Bewegung im Iran, die Aufstände des Arabischen Frühlings in Ägypten, Tunesien, Syrien, die Gezi-Proteste in der Türkei, die Massenproteste des 15M in Spanien, die Anti-Austeritätsproteste in Griechenland haben zwar gezeigt, dass innerhalb dieser Bewegungen spontan Methoden und Elemente der Selbstorganisierung von unten entwickelt und angewandt wurden und ähnliche Basisstrukturen wie Stadtteilkomitees entstanden sind. Gleichzeitig waren diese spontanen Erhebungen aber massiven Angriffen durch die alten Regimes, reformistische und konterrevolutionäre Kräfte ausgesetzt, die ihrerseits organisiert vorgingen und versuchten, die Bewegungen zu spalten, zu instrumentalisieren, zu zerschlagen etc. Wenn Menschen in spontanen Erhebungen erst anfangen, sich die Kenntnisse, die Strukturen und die Erfahrung von Selbstorganisierung sowie das politische Bewusstsein und eine revolutionäre Analyse anzueignen, wenn sie am meisten den Angriffen der konterrevolutionären Kräfte ausgesetzt sind, führt das dazu, dass diese nicht in der Lage sind, langfristig zu bestehen.

Da die Hegemonie der kapitalistischen Ideen eine strukturelle Hegemonie ist, ist es zudem nicht möglich, einzeln oder in gespaltenen kleinen Gruppen gegen sie anzukämpfen. Die Prekarität hat auch die materiellen Bedingungen des politischen und sozialen Kampfes von Linksradikalen verändert. Unorganisiert und vereinzelt wächst die Gefahr, dass wir die herrschenden Denkweisen verinnerlichen und reproduzieren oder im Versuch aufgesogen werden, die eigenen Alltagsprobleme individuell zu lösen. Um vor diesem Hintergrund emanzipative Denkweisen zu verteidigen, zu entwickeln und auszuweiten, bedarf es eines organisierten, kollektiven Kampfes. Gleichzeitig bildet Organisierung die Grundlage für politisches Handeln, das sich an der Analyse gesellschaftlicher Bedingungen und Entwicklungen orientiert und daraus Strategien, Taktiken und Ziele ableitet. Die vielen Strategiedebatten in unseren Strukturen und die häufig geäußerte Kritik an unserer Politik werden keine Veränderungen zur Folge haben, solange es keinen festen organisierten Rahmen gibt, in dem Veränderung gemeinsam stattfinden kann.

Wir denken, eine der drängendsten Fragen von Revolutionär_innen in der heutigen Zeit ist es, eine geeignete Form der Organisierung zu finden, die den momentanen Bedingungen und Notwendigkeiten entspricht und die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt. Es gibt keine alten, vorgegebenen Lösungen, sondern wir müssen uns kreativ auf die Suche nach neuen Formen der Organisierung machen. Dabei lässt sich festhalten, dass hierarchische Organisationsformen und Führungskonzepte für gesellschaftliche Emanzipation und Selbstbestimmung vollkommen untauglich sind. Historisch hat sich immer wieder gezeigt, dass sie zur Unterdrückung der selbstorganisierten und emanzipatorischen Momente revolutionärer Bewegungen dienten und zur (Wieder-)Herstellung neuer Klassenherrschaft. Entsprechend ist eine Form der überregionalen, revolutionären Organisierung notwendig, in der die Entscheidungsmacht in allen Fragen an der Basis bleibt, die aber dennoch verbindliche Strukturen und ein gemeinsames strategisches Vorgehen ermöglicht. Wir sind nicht in der Lage, hier und jetzt eine konkrete Skizze einer revolutionären Organisation zu entwerfen. Einige grundlegende Aspekte haben wir in unserem Thesenpapier benannt, letztlich muss eine konkrete Form jedoch im gemeinsamen Aufbauprozess und aus einer gemeinsamen Praxis und Diskussion entstehen.

 

Internationalismus als strategische Notwendigkeit

Als letztes möchten wir auf den Aspekt des Internationalismus eingehen, der die Grundlage für unsere Strategie aber auch Organisierungsprozesse bildet und der im Kommenden Aufprall fehlt. Unter Internationalismus wird häufig ausschließlich die Solidarität mit und Unterstützung von Kämpfen und Bewegungen an anderen Orten der Welt verstanden. Wir sehen Internationalismus jedoch als eine strategische Notwendigkeit, die sich aus der Analyse der historisch-materiellen Bedingungen ableitet. Durch die zunehmend globale Organisierung des Kapitals sind auch die Lebens- und Kampfbedingungen an unterschiedlichen Orten voneinander abhängig. Dies zeigte sich z.B. an der Situation in Griechenland. Durch das fast völlige Fehlen von sozialen Kämpfen in der Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten konnte die Bundesregierung weitreichende Umstrukturierungen auf dem Arbeitsmarkt (aber auch in anderen Bereichen) vornehmen. Dadurch wurde nicht nur die Konkurrenz innerhalb der EU verstärkt, sondern auch das Herrschaftsprojekt der EU gegen die Interessen der Bevölkerungen insgesamt ausgebaut. Diese Entwicklungen haben die Lebens- und Kampfbedingungen v.a. in der europäischen Peripherie massiv verschlechtert. Am Beispiel Griechenlands wird deutlich, dass das Fehlen von antikapitalistischen Kämpfen in den kapitalistischen Zentren wie der BRD ein wichtiger Faktor ist, der die Bedingungen revolutionärer Bewegungen an anderen Orten der Welt beeinflusst. Dies gilt insbesondere auch für Kämpfe in Ländern des globalen Südens, da der Einfluss der westlich-industrialisierten Staaten hier massiv ist. Deshalb erschöpft sich Internationalismus für uns nicht in »passiver«Solidarität mit den Kämpfen an anderen Orten der Welt, sondern beinhaltet v.a. auch die Stärkung internationalistisch ausgerichteter Kämpfe in der bundesdeutschen Gesellschaft. Die Hindernisse bzw. Voraussetzungen für die Entstehung von internationaler Solidarität und Beteiligung an internationalen Kämpfen sind dieselben, wie für die Entstehung emanzipatorischer Klassenkämpfe in der hiesigen Gesellschaft. Wesentlich für beide ist, dass die Widersprüche innerhalb der Gesellschaft und die Unvereinbarkeit von Interessensgegensätzen verschiedener Klassen wieder ins gesellschaftliche Bewusstsein gebracht werden. Auch gilt es, die Gemeinsamkeit und Verbindung von unterschiedlichen Kämpfen herauszustellen und zusammen zu denken – sowohl international als auch hinsichtlich verschiedener Unterdrückungsverhältnisse (Kämpfe gegen rassistische, sexistische, klassistische etc. Unterdrückung) und unterschiedlicher sozialer Kampffelder (Arbeit, Wohnen, Reproduktion, Gesundheit, Bildung etc.).

Der zweite Aspekt, der sich in Bezug auf Internationalismus aus den o.g. Überlegungen ergibt, bezieht sich auf die Art und den Aufbauprozess einer revolutionären Organisation. Eine revolutionäre Organisation von radikalen Linken muss den Kontakt zu allen in der BRD lebenden Linken suchen und aufbauen, um sich gemeinsam zu organisieren. Die Erfahrungen aus anderen Kämpfen und das Wissen über die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen an unterschiedlichen Orten fließen so in die Analyse der hiesigen Verhältnisse mit ein und stärken eine internationalistische Perspektive. Durch die gemeinsame Organisierung existiert zudem ein direkter Zugang zu und Kenntnis von dem migrantischen Teil der bundesdeutschen Bevölkerung, der ein wichtiges Potential für soziale Veränderung darstellt. Darüber hinaus wird dadurch auch verhindert, dass Unterdrückungsformen in Teilen der Bevölkerung nicht ernst genommen oder ausgeklammert werden. Denn nationalistische, rassistische und rechte Tendenzen nehmen in der Bundesrepublik nicht nur innerhalb der weiß-deutschen Bevölkerung zu, sondern auch innerhalb von migrantischen Communities, ebenso wie islamistische Tendenzen im Rahmen der Ausbreitung des politischen Islam. Gleichzeitig heißt Internationalismus klassischerweise auch den Kontakt zu revolutionären Gruppen weltweit zu suchen, deren Kämpfe zu unterstützen, von ihren Erfahrungen zu lernen und in Austausch auf Augenhöhe zu treten. Internationale Solidarität bedeutet für uns, die tatsächliche Auseinandersetzung zu suchen, eigene Kritik zu äußern, Fragen zu stellen und zu diskutieren. Gleichzeitig ist längerfristig die Frage zu diskutieren, wie die Zusammenarbeit unter verschiedenen revolutionären Gruppen und Organisationen über nationale Grenzen hinweg und über einen gegenseitigen Austausch hinaus aussehen und funktionieren kann.

 

Kollektiv aus Bremen

 

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Kollektiv Bremen (2016): Thesen über Kritik linksradikaler Politik, Organisierung und revolutionäre Praxis, Bremen, online unter: https://linksunten.indymedia.org/de/node/179915.