Das Weltbild des Antiimperialismus – Staatsdoktrin der Sowjetstaaten und Orientierungspunkt der Neuen Linken – bestimmt bis heute die Interpretationsmuster linker Gruppen und Bewegungen. Zuletzt haben das die Reaktionen auf den 7. Oktober gezeigt. Gruppen wie die »Studis gegen rechte Hetze« verbinden dabei einen klassischen Antiimperialismus mit postmodernen Argumentationsmustern, was sie vor allem an der Hochschule anschlussfähig macht.  

»Wir mußten – kurzum – brechen mit allen Facetten des leninistisch-stalinistischen Verständnisses nationaler Befreiung, das von Beginn an die Politik der Komintern bestimmte und das wir uns im Zuge der Rezeption des Marxismus-Leninismus Anfang der siebziger Jahre eingehandelt hatten (...) Zur Disposition steht jenes Erbe, das sich in unsere Köpfe eingegraben hat und unser politisches Denken stärker bestimmt, als uns oftmals bewußt ist. Der Rekurs auf die Geschichte kann die Schwierigkeiten, vor denen wir hier stehen, ebensowenig lösen wie der emphatische Bezug auf die weltweiten Kämpfe.« (RZ, 1991) 

Im Jahr 1991 veröffentlichten die Revolutionären Zellen (RZ) einen Text mit dem Titel »Gerd Albartus ist tot«. Albartus, ein ehemaliges Mitglied der Gruppe, war einer palästinensischen Terrorzelle beigetreten und aus ungeklärten Gründen von ihr ermordet worden. Der Text ist nicht nur ein Nachruf auf einen ehemaligen Genossen, er ist auch eine reumütige Grabrede auf eine bis dato linke Selbstverständlichkeit: den Antiimperialismus. Die bedingungslose Parteinahme für nationale Befreiungsbewegungen, die sich gegen die geopolitische Hegemonie des Westens richtete, habe den kritischen Blick auf die reaktionären Schattenseiten der antiimperialistischen Kämpfe verstellt. Im Einklang mit den Parteidoktrinen der Blockstaaten sei Antisemitismus als notwendiger Kampf gegen den »imperialistischen Zionismus« verklärt worden. Dass man während der Flugzeugentführung von Entebbe die jüdischen von den restlichen Passagieren separierte, sei nur der schlimmste vieler Höhepunkte ihres Antisemitismus gewesen.1  

Der selbstkritische Appell der RZ, den man trotz einiger analytischer Fehlschlüsse für seine Schonungslosigkeit gegenüber der eigenen Geschichte würdigen muss, scheint heute verhallt zu sein. Die Ahnung, dass die unterdrückten Völker zu Völkern im schlechten Sinne werden können, hat sich in der radikalen Linken bis heute nicht als Konsens durchgesetzt. Das haben die Reaktionen einiger linker Gruppen auf das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 in aller Deutlichkeit gezeigt. Stellte man Anspruch auf eine vollständige Darstellung der verschiedenen Positionierungen und Statements, die in den letzten fünf Monaten entstanden sind, wäre diese wohl zum Scheitern verurteilt, so oft wurde sich seitdem geäußert. Während einige wenige das größte Pogrom an Juden und Jüdinnen seit der Shoah zum Anlass nahmen, sich verstärkt mit Antisemitismus (auch in den eigenen Reihen) zu beschäftigen2, übten sich andere nach wochenlanger Funkstille in abstrakten Friedensappellen.3 Viel schlimmer – und doch nicht überraschend – fielen die Positionierungen einschlägiger antiimperialistischer Gruppen aus. Wie selten zuvor offenbarte sich ihr reaktionäres Weltbild.  

Im Frankfurter Universitätskontext machte vor allem die Gruppe »Studis gegen Rechte Hetze« auf sich aufmerksam, indem sie das Pogrom relativierte oder es gar als antikolonialen Widerstand begrüßte. Zwar spielen Gruppen wie diese in dem was von der radikalen Linken heute noch übrig ist bislang keine führende Rolle. Dennoch gewinnen die Deutungsmuster des klassischen Antiimperialismus insgesamt wieder an Bedeutung.4 Die gegenwärtige Attraktivität des antiimperialistischen Weltbilds lässt sich zum einen auf die Orientierungslosigkeit der radikalen Linken zurückführen, gegen die es einfache Rezepte verspricht. Zum anderen ermöglicht seine Verknüpfung mit Versatzstücken des postmodernen Antirassismus Anschlussfähigkeit über die Szenegrenzen hinaus. Die Politik der »Studis gegen rechte Hetze« steht exemplarisch für einen solchen identitätspolitisch renovierten Antiimperialismus, der sich auf an den Universitäten verbreitete postkoloniale Gewissheiten beziehen kann und sich zugleich auf das altbekannte Weltbild eines manichäischen Antiimperialismus stützt.  

Der Begriff Antiimperialismus meint in diesem Zusammenhang nicht die tatsächlichen historischen Emanzipationsbewegungen gegen Imperialismus und Kolonialismus, sondern eine spezifische, marxistisch-leninistisch orientierte Interpretation dieser Kämpfe. Als Bewegung erlebte diese Interpretation ihre letzte große Hochphase durch die dogmatische Wende der Restbestände von ‘68 in der Bundesrepublik. Damit kennzeichnete der Antiimperialismus auch das Scheitern der antiautoritären Linken, das es zu begreifen gilt, will man den Erfolg des neuen Antiimperialismus verstehen.   

  

Vom Kosmopolitismus zum Antiimperialismus  

»Alptraum, die Wirklichkeit hat uns gestört. Der Junikrieg paßte nicht in unser Weltbild. In der ›Traumdeutung wendet Freud moralkritisch ein: Es bleibt auf alle Fälle lehrreich, den viel durchwühlten Boden kennenzulernen, auf dem unsere Tugenden sich stolz erheben (...). Der viel durchwühlte deutsche Boden sollte durch einfache Alternativen erledigt werden. Von der Schuld der rechten Väter wollten sich die moralischen linken Kinder abtrennen. Wir sind von 1967 an der Dialektik der abstrakten Moral gefolgt. Logisch endete sie bei der unkritischen Solidarität mit den Palästinensern.« (Detlev Claussen, 1983) 

So reflektiert Detlev Claussen in seinem selbstkritischen Essay »Im Hause des Henkers« die 1967 mit dem Sechstagekrieg einsetzende Reorientierung der Neuen Linken. In ihrer Entstehungszeit in der westdeutschen Nachkriegszeit hatte sie der altlinken Parole »Nie wieder Krieg« den Imperativ »Nie wieder Auschwitz« zur Seite gestellt, um der unzureichend begriffenen Bedeutung der Shoah Geltung zu verschaffen. Die Realität der Shoah hatte, indem sie in schrecklicher Weise bewies, dass es etwas Schlimmeres als Krieg geben konnte (etwas Schlimmeres, das letztlich nur durch den Krieg selbst beendet werden konnte), die politische Landkarte der Linken fundamental infrage gestellt. Das politische Projekt der antiautoritären Linken war, wenn auch bruchstückhaft und von kurzer Dauer, ein Versuch, Antworten auf diese Infragestellung zu finden. Konsequenterweise war die politische Linie linker Organisationen in der deutschen Nachkriegszeit spektrumsübergreifend israelsolidarisch. Die Solidarität mit dem Staat der Überlebenden war zumindest oberflächlich Teil des linken Selbstverständnisses.  

Sofern die kritische Auseinandersetzung mit der Tätergeneration, dem Nationalsozialismus und dem Antisemitismus nicht bereits Trugschlüsse einer falschen Rückprojektion in das politische Vermächtnis der Neuen Linken sind, so setzte sich spätestens ab 1967 eine gänzlich andere Haltung durch.5 Nach dem Sechstagekrieg zwischen Israel und seinen Nachbarländern Ägypten, Jordanien und Syrien rückte der Antiimperialismus und mit ihm der Antizionismus ins Zentrum des linken Koordinatensystems. Hatte man sich in der Neuen Linken zuvor dem Internationalismus in »einem sehr jüdischen, nämlichen kosmopolitischen Sinn« (Dan Diner) verschrieben, äußerte sich der Antiimperialismus nun im Gegenteil in einer zunehmenden Glorifizierung von Ethnizität und Indigenität. Statt dem Imperialismus im Marx’schen Sinne einen universalistischen Befreiungsimperativ zu Enthebung des Menschen aus seinem geknechteten Zustand entgegenzusetzen, erhob man die nationale und kulturelle Selbstbestimmung zum Selbstzweck. 

Damit waren die Abkehr von der Kritischen Theorie und eine inhaltliche Retraditionalisierung verbunden: Statt die historische Erfahrung der Integration des deutschen Proletariats in die Volksgemeinschaft und den Zivilisationsbruch Auschwitz zu reflektieren, berief man sich auf einen überholten Traditionsmarxismus oder dessen Präparate. Dies hatte grundlegende theoretische Konsequenzen: Der Nationalsozialismus wurde unter einen marxistisch-leninistischen Faschismusbegriff subsumiert, der die Bedeutung des Antisemitismus ebenso relativierte wie die Präzedenzlosigkeit der Shoah. Getreu der Dimitroff-These6, wurde der Faschismus als eine »terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals« charakterisiert, wodurch der Antisemitismus als Ideologie höchstens noch als Werkzeug zur Spaltung der Arbeiterklasse verstanden wurde. Die Erkenntnis, dass der Antisemitismus nicht bloß ein Instrument der herrschenden Klasse war, sondern aus der kapitalistischen Moderne an sich resultiert, ging mit dieser theoretischen Regression verloren. Diese Verschiebung bereitete den Boden für die Rehabilitierung der Nation, die sich dem zum Antiimperialismus degradierten Internationalismus als positiver Bezugspunkt gegen das »imperialistische Monopolkapital« anbot.  

Das Scheitern der antiautoritären Linken begann mit der Gründungsphase der K-Gruppen, in der versucht wurde, proletarische Massenparteien aufzubauen. Da das deutsche Proletariat an diesem Projekt kein besonders großes Interesse zeigte, wendete man sich zunehmend den nationalen Befreiungsbewegungen im globalen Süden zu. Trotz zahlloser Streitpunkte waren sich die K-Gruppen mehrheitlich einig: Der Dreh- und Angelpunkt der nationalen Befreiung gegen den imperialen Westen müsse Palästina sein7. Weil ihnen die Zionisten als die »Nazis unserer Tage« (KPD/AO) und die früheren Opfer als die neuen Täter galten, musste man sich auch über die Schuld der deutschen Nation keine Gedanken mehr machen und konnte seinem sekundären Antisemitismus freien Lauf lassen.8 1974, keine 30 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus, propagierte die KPD/ML: »Deutschland dem deutschen Volk«, womit man den Abzug der Alliierten und eine Abkehr von der Kollektivschuldthese forderte.9 Die sogenannte Kollektivschuldthese war zwar nie derart hegemonial, wie ihre nationalistischen Kritiker Glauben machten, aber ihre pauschale Abwehr eignete sich hervorragend, um die Verantwortung der Deutschen zu negieren. Ironischerweise wiederholt sich dieses Deutungsmuster heute unter vorgeblich deutschlandkritischen Vorzeichen mit dem Slogan »Free Palestine from German guilt«. Die implizite Forderung damals wie heute: Die Bedeutung von Auschwitz soll aus den Köpfen und den politischen Analysen verschwinden.10  

Auch die Aufwertung von Indigenität und kulturellem Partikularismus, wie sie sich in der Politik der K-Gruppen durchsetzte, findet sich heute bei den antiimperialistischen Gruppen in neuem Gewand. So nahm die Gruppe »Free Palestine FFM« 2020 eine Demonstration gegen die Zustände im Flüchtlingslager Moria zum Anlass, um in ihrem Redebeitrag zu behaupten, die Staatsgründung Israels sei mit der Vertreibung der »Ureinwohner*innen, den Palästinenser*innen« einhergegangen. Die Forderung, die mit dieser Behauptung verbunden wurde, war eindeutig: »Lasst uns unsere anti-imperialistischen Kämpfe vereinen!« und einige Teilnehmer der Demonstration stimmten die Sprechchöre »Yallah Yallah Intifada«11 und »From the river to sea...«12 an. Als sich im Nachgang zur Demo »Migrantifa Hessen« (eine der beteiligten antirassistischen Gruppen) distanzierte, wusste man bei den »Studis gegen Rechte Hetze« sofort: Die Gruppe habe sich in eine »rassistische, antideutsche Ortsgruppe« verwandelt.  

Die zunehmende Paranoia vor einer vermeintlichen »antideutschen Zersetzung« linker Gruppen und Bündnisse ist ein weiteres Beispiel für die Realitätsferne antiimperialistischer Projektionen. Die antideutsche Linke, heute so marginal und unbedeutend wie wahrscheinlich noch nie seit ihrem Entstehen in den 90er Jahren, wird hinter jedem innerlinken Widerspruch gegen die eigenen Positionen vermutet. Entsprechend wahnhaft ist auch die »Kritik« an Israel, der zufolge der jüdische Staat hinter jedem Unrecht dieser Welt zu stecken scheint. So instrumentalisierte man im Februar dieses Jahres selbst den Jahrestag des rassistischen Attentats von Hanau und rief zu einer Demonstration mit dem Motto »Von Hanau bis nach Gaza« auf. Dabei beschwor man angebliche Parallelen zur »israelischer Kolonialpolitik«. Von den Parallelen zwischen dem antisemitischen Weltbild des Attentäters von Hanau und dem der Hamas, gegen das der israelische Staat eine Schutzfunktion erfüllt, wollte man freilich nichts wissen. 

 

Gespenster in neuen Laken  

Seit ihrer Gründung im Jahre 2019 besteht die politische Praxis der »Studis gegen rechte Hetze« in erster Linie darin, Israel zu dämonisieren. Dass es ihnen nicht um die Kritik an rechten Umtrieben an der Uni geht, zeigte sich schnell. Mitte 2020 unterstützte die Gruppe einen Aufruf der Antisemiten von »Free Palestine FFM« zum »Nakba Gedenken«, in dem man gegen den »Siedlerkolonialismus« und die »Apartheid« Israels wetterte. Seitdem stellt die Gruppe ihre antiimperialistische Profilierung zunehmend öffentlich zur Schau. Dabei schreckt man nicht davor zurück, Veranstaltungen zum Thema Antisemitismus zu stören, antisemitismuskritische Kommiliton_innen öffentlich als Rassist_innen zu diffamieren oder mit Organisationen wie Samidoun13 zusammenzuarbeiten. Einige Mitglieder der Gruppe liefen gar beim diesjährigen »Al-Quds-Tag« in Frankfurt mit. Der international stattfindende Demonstrationstag wurde von Ruhollah Chomeini, dem religiösen Führer der »islamischen Revolution« im Iran, ins Leben gerufen und propagiert unverhohlen die Vernichtung Israels. Im Januar dieses Jahres störte die Gruppe eine von diskus und AStA veranstaltete Lesung zum Buch »Judenhass Underground«, in der es um Antisemitismus in Subkulturen ging. Dabei zeigte sich das bekannte Muster ihres politischen Aktivismus: Statt inhaltlich zu diskutieren, provozierten sie einen Rausschmiss, um diesen anschließend als »rassistisch motiviert« zu skandalisieren. Dieser Symbolpolitik geht es nicht um die politische Auseinandersetzung, sondern um bloße Selbstinszenierung. 

Neu an Gruppen wie den »Studis« ist nicht der seit den K-Gruppen dominante Antiimperialismus, sondern seine Verknüpfung mit postmodernen Argumentationsmustern. Regelmäßig bedient man sich rhetorisch am Repertoire der Sprechakt- und Standpunkttheorie. Etwa wenn man abweichende Meinungen anderer (antirassistischer) Politgruppen delegitimiert, indem man behauptet, sie sprächen »nicht für alle migrantisch markierten Menschen in Hessen und [könnten] das auch niemals tun, auch wenn sie das nach außen hin vorgeben«. Anstatt inhaltlich Diskussionen zu führen, disqualifiziert man einfach den Standpunkt des anderen – so sieht die »Diskursstrategie« einer postmodernen Linken aus. Dieser identitätspolitisch überformte Antirassismus teilt mit dem Antiimperialismus der 1970er und 1980er Jahre eine manichäische Sicht auf die Welt. Ersterer bedient sich vor allem an Theorieversatzstücken der Postkolonialen Theorie. Ursprünglich trat diese für das genaue Gegenteil ihrer heutigen Erscheinungsformen an: Zwar sollten die kolonialen Großerzählungen kritisiert werden, jedoch ohne die simplizistische Dichotomie zwischen Kolonisierten und Kolonisatoren (wie sie in den Imperialismustheorien des Antiimperialismus zu finden waren) aufrechtzuerhalten. Vielmehr wurden »hybride Subjektpositionen« herausgestellt, um eine essentialistische oder nationalistische Argumentationsweise zu vermeiden. Da der Postkolonialismus als Produkt des französischen Poststrukturalismus den Herrschaftszusammenhang der globalen kapitalistischen Entwicklung nur auf einer diskurstheoretischen Ebene von Erzählungen und Gegenerzählungen fassen konnte, lag es jedoch nah, auf simplifizierende antiimperialistische Argumentationsmuster zurückgreifen, um die ökonomischen Ausbeutungsmechanismen zwischen Nord und Süd deuten. So ergibt sich bei vielen Autor_innen der postkolonialen Theorie ein widersprüchliches Durcheinander von antiessenzialistischen und dekonstruktivistischen Argumentationsformen bei gleichzeitig unkritischer Identifizierung mit den »subalternen Identitäten« des globalen Südens.  

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass dieser Widerspruch in der Theorie angelegt ist. Weil die postkolonialen Theorien jeglichen Begriff von kapitalistischer Totalität14 als eurozentristischen Diskurs ablehnen, können sie im globalen Süden einen nicht-kapitalistischen Bezugspunkt ausmachen. Es ist daher kein Zufall, dass poststrukturalistische bzw. postkoloniale Theoretiker_innen wie Judith Butler, Edward Said oder auch Gayatri Chakravorty Spivak ein Problem damit haben, reaktionäre Bewegungen im globalen Süden zu kritisieren. Schließlich würde aus ihrer Sicht eine solche Kritik bereits einem »kolonialen Blick« auf den »Anderen« entsprechen. Folglich vermeidet man nicht nur Kritik, sondern verklärt islamistische oder panarabische (National)bewegungen zu antikolonialen Widerstand.15 Vor dem Hintergrund solcher Theorien erscheint eine realistische Sicht auf den Nahost-Konflikt äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Die Begriffsunschärfe und Widersprüchlichkeit der postkolonialen Theorie begünstigt ein politisches Weltbild, in dem die gesellschaftliche Herrschaft einseitig in das Kollektivsubjekt des »Westens« projiziert werden kann. 

Dass dies das Bindeglied zum klassischen Antiimperialismus ist, ließ sich im Zuge der Positionierung zum Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine beobachten. Statt – wie es sonst oft getan wird – die stärkere Kriegspartei des gewaltsamen Konflikts des Imperialismus zu bezichtigen, wurde der Krieg von den »Studis«, oder der linken Hochschulgruppe SDS zum Anlass genommen, über faschistische Strukturen in der Ukraine aufzuklären.16 Über den Einfluss des neofaschistischen Denkens eines Alexander Dugin, die zunehmend totalitäre Herrschaft des russischen Staates oder die Gräueltaten und Kriegsverbrechen seiner Armee und ihrer Rackets hat man dagegen bis heute kein Wort verloren. Man folgt dabei dem Schema: Der vermeintliche Antifaschismus ist nur gerechtfertigt, solang er sich gegen den »kollektiven Westen« (Putin) richtet. Konsequenterweise beschimpft man Linke, die die Propagandaerzählung Russlands über die Entnazifizierung der Ukraine nicht einfach übernehmen wollen, gerne als »Nato-Linke«.  

 

Konkretes Kapital, abstrakte Befreiung  

Warum verteidigen selbsterklärte linke Gruppen implizit oder explizit eine autoritäre (staats-)kapitalistische Großmacht? Eine Antwort lieferten die »Studis« auf einer Klimakonferenz letztes Jahr selbst. Auf der Konferenz sprengten sie einen Vortrag, in dem die Unterdrückung ethnischer Minderheiten kritisiert und die Dekolonialisierung Russlands gefordert wurde. Gegenüber standen sich zwei Positionen postkolonialer Kritik: Auf der einen Seite die ebenfalls reaktionär anmutende, aber immerhin konsequente Version eines Kulturrelativismus, der die Rückkehr in eine ethnisch-kulturelle Kleinstaatenordnung in Russland forderte, auf der anderen Seite eine durch den marxistisch-leninistischen Bezugsrahmen des Kalten Krieges unterfütterte Version, die Dekolonialisierung nur fordert, wenn es um westliche Nationen geht.  

Dass sich die beiden Seiten inhaltlich näher sind, als das lautstarke Gefecht in diesem Moment vermuten ließ, zeigte sich an der Unschlüssigkeit einiger Beteiligter, auf welche Seite der sich anschreienden Fronten man sich schlagen sollte. Bevor man dazu überging, sich gegenseitig mit Sprechchören zu beschallen, begründeten die »Studis« noch einmal ihre Missgunst: Lenins Imperialismustheorie zeige, dass die Gefahr vor allem von den vom Monopol des Finanzkapitals beherrschten Staaten ausgehe. Jede Kritik am Treiben des russischen Staats und seiner Verbündeten diene daher lediglich der Legitimation des »Nato-Imperialismus«. In öffentlichen Stellungnahmen führten sie ihre Argumentation weiter aus: Der bis heute anhaltende Krieg sei eine Strategie der »westlichen Banken und Hedgefonds«, die sich auf »die Privatisierung und den Ausverkauf der ukrainischen Konzerne und Infrastruktur« vorbereiten würden.17   

In dieser Argumentation werden nicht nur die Fehlannahmen der Lenin’schen Imperialismustheorie übernommen, sondern auch seine verkürzte Kritik von Arbeit und Kapital. Herrschaft versteht man bloß als die eines monolithischen Machtblocks aus Staat und Kapital, Ideologie bloß als dessen Lügenerzählung. So werden nur die Erscheinungsformen der kapitalistischen Gesellschaft, der Finanzmarkt oder die Besitzverhältnisse kritisiert, ohne dabei den Wert und die ihr zugrunde liegende Arbeit als historisch spezifische Vermittlungsformen der kapitalistischen Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Moishe Postone bezeichnete die Wiederkehr dieses falschen Antikapitalismus in Form von Imperialismuskritik als »Neo-Antiimperialismus«. Bestandteile dieser Weltsicht seien die »Konkretisierung des Abstrakten, eine Fetischisierung des globalen Kapitals in Gestalt der USA, oder, in manchen Spielarten, der USA und Israel«. Postone beobachtete diese Tendenz vor dem Hintergrund des Irakkriegs. Seine Analyse bleibt aktuell. Heute ist es das postsowjetische Russland, das als angeblicher Gegenpol zum Finanzmarktkapitalismus des Westens aufwartet. Für den Neo-Antiimperialismus ist das von einer staatlich kontrollierten Industriepolitik, dem Ressourcenabbau und ihrer industriellen Verarbeitung geprägte Russland der Verwalter der »guten« industriellen Arbeit, die es gegen das im Westen konkretisierte Finanzkapital zu verteidigen gelte.18  

  

Ewige Reaktion

Vor dem Hintergrund dieser verkehrten Analyse erscheint dem Neo-Antiimperialismus jede Handlung subalterner Akteure – zu denen unpassender Weise auch Russland gezählt wird – als bloße Reaktion auf die eigentliche Aktion des Westens. So kommt es, dass jene Gruppen offensichtliche Propagandaerzählungen teilweise im Wortlaut übernehmen: Putins Mär eines antifaschistischen Kriegs gegen die Ukraine oder die Umdeutung eines Pogroms zum Ausbruch aus einem »Freiluftgefängnis«.19 Durch die Reduzierung auf bloße Reaktivität wird die Gewalt »subalterner« Akteure immer wieder implizit oder auch explizit relativiert. Zudem verschwindet das Problem der Ideologie aus den Analysen. Würde man das Handeln, etwa der Hamas, als ein aktives erklären wollen, so müsste man sich damit beschäftigen, welche Ideologie hinter der Gewalt steckt. Dass dies auch bei vielen »gemäßigteren« Gruppen der radikalen Linken nicht getan wird, zeugt davon, wie sehr das manichäische Weltbild des Antiimperialismus immer noch zum linken »common sense« gehört.  

Ein Beispiel dafür ist ein Statement der Interventionistischen Linken Frankfurt zur »Situation in Israel/Palästina«: Zwar wird das antisemitische Massaker vom 7. Oktober eindeutig als solches benannt und verurteilt, jedoch vermeidet man es, irgendeine Erklärung für den Antisemitismus heranzuziehen. Während also eine Kritik des für den Antisemitismus der Hamas konstitutiven Islamismus vollkommen unerwähnt bleibt, wird die Ursache der »Eskalation« auf eine nicht weiter definierte Kriegs- und Militarisierungsstimmung zurückgeführt.20 Anstatt sich materialistisch, also ideologiekritisch mit den gesellschaftlichen Bedingungen antisemitischer Ideologie auseinanderzusetzen, wird abstrakt gegen eine »Logik des Krieges« argumentiert, um eine vermeintlich neutrale Äquidistanz zu beiden Seiten bewahren zu können. Dass es die iL mit dieser falschen Ausgewogenheit nicht wirklich ernst meint, zeigte sich jedoch schnell: In einem Demoaufruf21, an dem sie sich beteiligten, spricht man von einem »Genozid« und einer »Vernichtungswelle« an den Palästinenser_innen. In letzter Konsequenz wird so der Unterschied zwischen der israelischen Kriegsführung und ihren grausamen Folgen für die Zivilbevölkerung Gazas einerseits und dem antisemitisch motivierten Vernichtungsfeldzug der Hamas andererseits nicht nur bis zur Unkenntlichkeit verwischt, sondern sogar verkehrt. 

All diese Beispiele zeugen – im unterschiedlichen Maße – von der anhaltenden Wirkkraft einer »fetischisierten antikapitalistischen Ideologie«, wie sie sich (im alten wie im neuen) Antiimperialismus bis heute ausdrückt. »Dieses manichäische Weltbild, zusammen mit der absoluten Vereinfachung und Glorifizierung der dritten Welt, war bereits Ende der 60er Jahre ein Fehler, heute ist es nur noch traurig«, schrieb Postone 1977. Die Permanenz des Antiimperialismus ein halbes Jahrhundert später ist umso trauriger.